Documenta: Sind die Antisemitismus-Vorwürfe berechtigt?
Frank-Walter Steinmeier spricht von Grenzen der Kunstfreiheit, doch wurden diese in Kassel tatsächlich überschritten?
KASSEL. Rauchschwaden und wummernde Beats in der renovierungsbedürftigen, aber nicht desekrierten katholischen Kirche St. Kunigundis: Kunstschaffende aus Haiti
haben hier Skulpturen geschaffen, deren Inhalte sich um Tod, Krieg, Sexualität und Voodoo-Glauben bewegen: geheimnisvolle Puppenwesen und Todeskrieger, die aus Schrott und menschlichen Schädeln bestehen, tierische Zwitterwesen und monumentale Kreuze aus Fässern, in die Totenköpfe und
Herzornamentik eingraviert wurden. Wild, rau und sinnlich ist diese „Voodoo-Kirche“, sicher einer der schrägsten und eindrücklichsten Kunstorte, die die documenta fifteen zu bieten hat.
Wo man Blasphemievorwürfe erwarten würde, dominiert die Toleranz. Der lokale Pfarrer sprich von einer „Wiederbelebung“des Gotteshauses durch das Kollektiv Atis Rezistans („Künstler des Widerstands“) und die Ghetto Biennale, die seit 13 Jahren haitianische und
karibische Kunst verknüpft. Die Kirche im erstmals bespielten Kasseler Industriebezirk Bettenhausen steht für eine Haltung der Offenheit, für Dialog mit Neuem und Unbekanntem – eine Gelassenheit, die man anderen in Kassel wünschen
würde. So hat etwa Oliver Bienkowski von der Künstlergruppe Pixelhelper Projektionen auf documenta-Gebäude
„Kunst ist nicht streitfrei zu haben.“ mit folgenden Texten geworfen: „Ruangrupa sind homophob und antisemitisch“oder „Hitler mag Ruangrupa“.
Diese ebenso diffamierenden wie geschmacklosen Äußerungen sind der bisherige negative Höhepunkt einer „Antisemitismus-Debatte“,
die sich in Deutschland rund um die documenta-Kuratoren Ruangrupa seit Monaten aufschaukelt. Die Debatte geht auf Vorwürfe des Kasseler Bündnisses gegen Antisemitismus zurück, schon im Jänner hatte sich die documenta von den Vorhalten distanziert. Grundlage der
Schau sei „die Meinungsfreiheit einerseits und die entschiedene
Ablehnung von Antisemitismus, Rassismus, Extremismus, Islamophobie und jeder Form von gewaltbereitem Fundamentalismus andererseits“, hieß es damals. Bewirkt hat das Statement wenig.
Mit Blick auf die AntisemitismusDebatte im Vorfeld der Schau habe er „manchen gedankenlosen,
leichtfertigen Umgang mit dem Staat Israel“beobachtet, sagte der deutsche Bundespräsident FrankWalter Steinmeier („Kunst ist nicht streitfrei zu haben“) bei der documenta-Eröffnung am Samstag. Seiner Ansicht nach sei die Kunstfreiheit ein Pfeiler demokratischer Gesellschaften, habe aber auch ihre Grenzen: „Doch wo Kritik an Israel
umschlägt in die Infragestellung seiner Existenz, ist die Grenze überschritten.“
Wo aber verläuft diese Grenzziehung in der Praxis? Welches auf der documenta fifteen ausgestellte
Werk ist gemeint? In der FAZ wird etwa der Umstand, dass Mohammed Al Hawajri auf Einladung des
palästinensischen Kollektivs „The Question of Funding“die Bildserie „Guernica Gaza“in Kassel zeigt, als „Verhöhnung der jüdischen Toten
des Zweiten Weltkriegs“und als „pervertierte Instrumentalisierung“von Pablo Picassos Bild „Guernica“interpretiert. Heikel, dieses Terrain. Ist die Tatsache, dass
palästinensische, aber keine israelischen Kunstschaffenden eingeladen wurden, Antisemitismus? Reicht der von „The Question of Funding“-Mitgliedern unterzeichnete israelkritische „Letter against Apartheid“(den auch prominente Westkunst-Vertreter unterschrieben haben) aus, die gesamte documenta, an der über 1500 Personen teilnehmen, zu diskreditieren?
Es zeugt von mangelnder Sensibilität von Ruangrupa, das Thema Antisemitismus in Deutschland unterschätzt zu haben. Dem globalen Süden war vieles andere wichtiger.
Aber: Einige Attacken auf die documenta und deren Macher sind weit
überzogen und unangebracht.
Frank-Walter Steinmeier, Bundespräsident