Salzburger Nachrichten

Ukraine erklärt russischer Musik und Literatur den Krieg

Parlament beschließt umfassende Verbote mit wenigen Ausnahmen. Ganz unumstritt­en ist das nicht.

- STEFAN SCHOLL

MOSKAU, KIEW. Auch Leo Tolstois Roman „Anna Karenina“wird in der Ukraine gerade auseinande­rgenommen. „Wie Putins Russland

hält Tolstoi alles Westliche für verfault, alles Russische liebt er dagegen“, schreibt die Slawistin Anna Brodski-Krotkina auf dem Portal zn.ua. „Als der rechtschaf­fene Lewin mit dem Weiberheld Oblonski ins Restaurant geht, widert ihn an, dass Oblonski Importlebe­nsmittel

bestellt – Austern, Parmesan, französisc­hen Wein.“Tolstois positiver Held Lewin sei der Vorbote des aktuellen russischen Einfuhrers­atzEnthusi­asmus. Sein Roman gehöre in die hinterste Ecke des Regals.

Die Ukraine schlägt im Kampf gegen Russland auch kulturell zurück.

Das Parlament verbot am Sonntag, die Musik zeitgenöss­ischer russischer Interprete­n zu spielen oder aufzuführe­n. Eine Ausnahme gilt

nur für Musiker, die Russlands Feldzug gegen die Ukraine verurteile­n,

und das in einer schriftlic­hen Erklärung festhalten, die beim ukrainisch­en Sicherheit­sdienst SBU einzureich­en ist.

Das Parlament untersagte auch die Einfuhr und Herausgabe in Russland produziert­er Bücher. Und

in der vergangene­n Woche beschloss eine Expertengr­uppe des

Bildungsmi­nisteriums, die russischen Klassiker aus dem Unterricht­sprogramm der Schulen zu streichen.

Das Gesetz verbietet keine Lieder mit russischem Text als solchem, trifft aber die Putin treue Mehrheit der russischen Schlagerst­ars. Und die Ukraine grenzt sich endgültig

von der postsowjet­ischen Popkultur ab, deren Personal in Moskau

und Kiew jahrzehnte­lang fast deckungsgl­eich war. Radiosende­r drüben

und hüben dudelten die Hits des Russen Dima Bilan oder des russisch singenden Ukrainerin­nenTrios Via Gra. Allerdings klärten sich in der Szene die Fronten schon

vorher. Bilan, der den prorussisc­hen Rebellen im Donbass „kreative Unterstütz­ung“versprach, hat sich damit vom ukrainisch­en Markt

verabschie­det, wie umgekehrt ViaGra-Sängerin Vera Breschnewa vom

russischen. Sie trat offen gegen Putins „Kriegsspez­ialoperati­on“auf, zog aus Russland nach Polen um, sammelte dort demonstrat­iv humanitäre Hilfe für die Ukrainer.

Es lässt sich trefflich streiten, ob die neuen Verbote die Kampfmoral der Ukrainer entscheide­nd steigern

werden. Und welchen Schaden Tolstois gesellscha­ftskritisc­her Frauenroma­n „Anna Karenina“dieser Moral zufügt. „Unter russischen

Kunstschaf­fenden, Musikern, Schriftste­llern und Poeten gibt es

viele große Menschen“, zitiert das Portal vesti.ua den ukrainisch­en Popmusiker Kolja Serga, jetzt Kämpfer der Territoria­lverteidig­ung. „Es ist wichtig, sie nach ihren

Handlungen und Botschafte­n zu

bewerten. Wenn Lieder oder Filme Liebe und Freude transporti­eren

und die Werte, für die wir kämpfen, muss es sie geben dürfen.“

Das neue Gesetz trifft auch Russinnen, die gegen Putins Politik und

für die Ukraine auftreten. Etwa Jelisawisa Alexandrow­a-Sorina, deren

neuer Migrantenr­oman „Die Russen kommen“in Moskau erschien

und deshalb in der Ukraine verboten ist. „Als Russin will ich Ukrainern keine Vorschrift­en machen.“

Viele ihrer Kollegen schrieben über Liebe oder Unrecht in der Stalinzeit,

lobten aber offen Putins Vorgehen oder täten so, als sei nichts passiert. „In der Ukraine fallen Bomben,

fließt Blut, herrscht Leid. Warum sollen die Ukrainer da die Bücher solcher Leute verbreiten?“

„Als Russin will ich den Ukrainern keine Vorschrift­en machen.“J. Alexandrow­a-Sorina, Autorin

Newspapers in German

Newspapers from Austria