Ukraine erklärt russischer Musik und Literatur den Krieg
Parlament beschließt umfassende Verbote mit wenigen Ausnahmen. Ganz unumstritten ist das nicht.
MOSKAU, KIEW. Auch Leo Tolstois Roman „Anna Karenina“wird in der Ukraine gerade auseinandergenommen. „Wie Putins Russland
hält Tolstoi alles Westliche für verfault, alles Russische liebt er dagegen“, schreibt die Slawistin Anna Brodski-Krotkina auf dem Portal zn.ua. „Als der rechtschaffene Lewin mit dem Weiberheld Oblonski ins Restaurant geht, widert ihn an, dass Oblonski Importlebensmittel
bestellt – Austern, Parmesan, französischen Wein.“Tolstois positiver Held Lewin sei der Vorbote des aktuellen russischen EinfuhrersatzEnthusiasmus. Sein Roman gehöre in die hinterste Ecke des Regals.
Die Ukraine schlägt im Kampf gegen Russland auch kulturell zurück.
Das Parlament verbot am Sonntag, die Musik zeitgenössischer russischer Interpreten zu spielen oder aufzuführen. Eine Ausnahme gilt
nur für Musiker, die Russlands Feldzug gegen die Ukraine verurteilen,
und das in einer schriftlichen Erklärung festhalten, die beim ukrainischen Sicherheitsdienst SBU einzureichen ist.
Das Parlament untersagte auch die Einfuhr und Herausgabe in Russland produzierter Bücher. Und
in der vergangenen Woche beschloss eine Expertengruppe des
Bildungsministeriums, die russischen Klassiker aus dem Unterrichtsprogramm der Schulen zu streichen.
Das Gesetz verbietet keine Lieder mit russischem Text als solchem, trifft aber die Putin treue Mehrheit der russischen Schlagerstars. Und die Ukraine grenzt sich endgültig
von der postsowjetischen Popkultur ab, deren Personal in Moskau
und Kiew jahrzehntelang fast deckungsgleich war. Radiosender drüben
und hüben dudelten die Hits des Russen Dima Bilan oder des russisch singenden UkrainerinnenTrios Via Gra. Allerdings klärten sich in der Szene die Fronten schon
vorher. Bilan, der den prorussischen Rebellen im Donbass „kreative Unterstützung“versprach, hat sich damit vom ukrainischen Markt
verabschiedet, wie umgekehrt ViaGra-Sängerin Vera Breschnewa vom
russischen. Sie trat offen gegen Putins „Kriegsspezialoperation“auf, zog aus Russland nach Polen um, sammelte dort demonstrativ humanitäre Hilfe für die Ukrainer.
Es lässt sich trefflich streiten, ob die neuen Verbote die Kampfmoral der Ukrainer entscheidend steigern
werden. Und welchen Schaden Tolstois gesellschaftskritischer Frauenroman „Anna Karenina“dieser Moral zufügt. „Unter russischen
Kunstschaffenden, Musikern, Schriftstellern und Poeten gibt es
viele große Menschen“, zitiert das Portal vesti.ua den ukrainischen Popmusiker Kolja Serga, jetzt Kämpfer der Territorialverteidigung. „Es ist wichtig, sie nach ihren
Handlungen und Botschaften zu
bewerten. Wenn Lieder oder Filme Liebe und Freude transportieren
und die Werte, für die wir kämpfen, muss es sie geben dürfen.“
Das neue Gesetz trifft auch Russinnen, die gegen Putins Politik und
für die Ukraine auftreten. Etwa Jelisawisa Alexandrowa-Sorina, deren
neuer Migrantenroman „Die Russen kommen“in Moskau erschien
und deshalb in der Ukraine verboten ist. „Als Russin will ich Ukrainern keine Vorschriften machen.“
Viele ihrer Kollegen schrieben über Liebe oder Unrecht in der Stalinzeit,
lobten aber offen Putins Vorgehen oder täten so, als sei nichts passiert. „In der Ukraine fallen Bomben,
fließt Blut, herrscht Leid. Warum sollen die Ukrainer da die Bücher solcher Leute verbreiten?“
„Als Russin will ich den Ukrainern keine Vorschriften machen.“J. Alexandrowa-Sorina, Autorin