Das Potenzial zur Vernichtung
Atomwaffen gehören verboten, finden 86 Staaten. Sie tagen in Wien – ohne jene, die Atomwaffen haben.
WIEN. Die Geschichten über abgewendete Atomkriege sind alt. Wie jene von Stanislaw Petrow, der im Herbst 1983 in einem Zentrum für Luftraumüberwachung nahe Moskau Dienst hatte. Als auf seinem Computerbildschirm fünf US-Raketen auftauchten, meldete er – ohne Gewissheit zu haben – einen Fehlalarm. Um den Dritten Weltkrieg und womöglich einen Atomkrieg zu verhindern, wie er später sagte.
Der sowjetische Oberst verstarb 2017. „Ob es heute in Nordkorea oder Moskau einen Stanislaw Petrow gibt?“, fragte am Montag Patricia Lewis, Konfliktforscherin und Direktorin des Programms für Internationale Sicherheit am Chatham House in London. Die Wissenschafterin strich damit bei der Konferenz zum humanitären Einfluss
von Atomwaffen in Wien hervor: „Wir hatten in der Vergangenheit sehr viel Glück.“Es seien nicht unsere Systeme gewesen, die uns vor
einem Atomkrieg bewahrt hätten, sondern Individuen wie Petrow.
Die Tagung in Wien bildete den Auftakt zu einem dreitägigen Treffen jener Staaten, die den Vertrag über das Verbot von Atomwaffen unterzeichnet haben. 86 sind es insgesamt, 62 haben den Vertrag bisher ratifiziert. Nicht dabei: sämtliche NATO-Staaten und alle Atommächte wie Russland und die USA.
Moskau und Washington sind gemeinsam im Besitz von 90 Prozent der Atomwaffen weltweit. Außerdem verfügen Frankreich, Großbritannien, Pakistan, Indien und Israel
über nukleare Sprengköpfe. All diese Arsenale werden laut dem schwedischen Friedensforschungsinstitut SIPRI in den kommenden Dekaden wachsen. Die nukleare Abrüstung, wie sie die Atomwaffengegner fordern, ist also in weiter Ferne.
Vielmehr scheint die Gefahr des Einsatzes von Nuklearwaffen realer denn je. „Nach der Kuba-Krise war es ein Tabu, offen nukleare Drohungen auszusprechen. Das ist heute offensichtlich nicht mehr der Fall“, sagte Steffen Kongstad, ehemaliger UN-Botschafter Norwegens, in
Wien mit Blick auf Kremlchef Wladimir Putin. Wir seien in der riskantesten Situation seit Ende des Kalten Krieges, sagte Konfliktforscherin Lewis. Izumi Nakamitsu, Leiterin des UN-Büros für Abrüstungsfragen, meinte: „Die Gefahr ist immanent. Wir sehen das und spüren das, speziell auf dem europäischen Kontinent.“
Während sich die Konferenz ab Dienstag mit dem völkerrechtlichen
Verbot von Atomwaffen beschäftigt, ging es am Montag um die Praxis: Welche Folgen hätte ihr Einsatz? „Diese Waffen haben das Potenzial, alles Leben auf der Erde auszulöschen“, mahnte Nakamitsu.
Ihr Kollege James Revill, der Leiter des UN-Instituts für Abrüstungsforschung,
ergänzte, es sei unwahrscheinlich, dass irgendein Land oder eine Organisation die humanitäre Notlage bewältigen könnte, die der Einsatz einer Atombombe auslöst. Sehr wahrscheinlich würden durch Explosion und Druckwelle auch medizinische Einrichtungen
in den getroffenen Gebieten zerstört, Helfer könnten nur schwer geschickt werden. Zudem sei unklar, ob internationale Organisationen überhaupt ohne ein Hilfsansuchen des betroffenen Staates intervenieren könnten – und ob die Ressourcen reichen, um so einer Katastrophe zu begegnen.
Welches Ausmaß ein Atomangriff konkret haben würde, ist schwer zu sagen. Moritz Kütt von der Universität Hamburg machte das Vernichtungspotenzial der heutigen
Atomwaffen aber im Vergleich deutlich: Etwa 750 Sprengköpfe gebe es weltweit in der Größe der Bombe von Nagasaki, 3760 Sprengköpfe mit einer fünf Mal höheren Sprengkraft und mehr als 4000 Sprengköpfe mit einer bis zu 200fachen Sprengkraft. „Kleine“Atombomben gibt es aus Sicht des Wissenschafters also nicht.
Neben den unmittelbaren Schäden sind die Langzeitfolgen durch
Strahlung das Hauptproblem. Beim Menschen sind Mädchen und Frauen davon weitaus stärker betroffen, als Männer, zeigen Studien. Auch die mentalen Folgen sind laut Kütt
immens. Hinzu komme die Gefahr der Eskalation. In Planspielen laufe der Einsatz einer nuklearen Waffe immer auf dasselbe Szenario hinaus: einen globalen Atomkrieg.