Jenseits von ausgelatscht
Nichts geht, wie es üblich ist: Rimini Protokoll führt bei der Sommerszene an Ecken, von denen man nur meinte, sie ohnehin zu kennen.
SALZBURG. Erdem Gündüz wurde
berühmt, weil er stand. Acht Stunden lang auf dem Taksim-Platz in Istanbul. Stumm stand er und starrte auf ein Porträt des türkischen Staatsgründers Kemal Atatürk. Und auf diese Weise wurde er 2013 das Gesicht einer Protestbewegung, weil er einfach nur dastand.
Jetzt geht er mit und erzählt von seiner Stehgeschichte und sagt zwischendurch, ich solle versuchen, rund um den Kreisverkehr zu gehen, an dem wir stehen. Und ich solle beim Gehen um diesen Ort, der nur geschaffen ist fürs Kommen
und fürs Gleich-wieder-Gehen, einen Rhythmus finden, sodass mich kein Auto aufhalten kann. Es gelingt. Ein Mal, zwei Mal, ein paar Mal. Und wie ich gehe, ändert sich
nicht nur der Verkehr, der sich bloß im Kreis dreht. Es ändert sich der Blick für alles rundherum. Ein bisschen später passiert das auch an einer Ampel. Es ändert sich das Empfinden für eine Umgebung, die
man schon Hunderte Male passierte, während nichts passierte. Jetzt,
weil man nicht nur vorbeigeht, sondern bewusst hingegangen ist, bekommt die scheinbar gewohnte und gewöhnliche Umgebung einen neuen Reiz. Vielleicht auch, weil man mit einem Fremden, eben mit dem türkischen Künstler Erdem Gündüz, hingegangen ist. In meinem Kopfhörer ist er dabei. Dorthin schickt ihn die Künstlergruppe Rimini Protokoll über die Audio-App „The Walks“.
„The Walks“folgt einem simplen Konzept: Mit Stimmen, Geräuschen oder Musik im Ohr lassen sich Orte erkunden. Egal ist, wo man ist, man muss sich nur rund 20 Minuten Zeit nehmen. Auch das technische Prinzip ist einfach: App auf das Smartphone laden. Zugangscode besorgen. Sich einen Startort aussuchen. Losgehen. Im Angebot sind unter anderem „Park“, „Straße“, „Gewässer“, „Ampel“oder eben „Kreisverkehr“. Im Rahmen der Sommerszene Salzburg ist der Zugriff auf die
App mit dem Code derzeit gratis. Sonst kostet der Walk 4,99 Euro.
Diese Art Podcast ist eine verhältnismäßig billige Variante, Kunst als
gesellschaftspolitisch relevante Tat mit dem Alltag zu verknüpfen. Und erstaunlich ist, erst recht in der
musealen, touristisch ausgelatschten Landschaft Salzburgs, dass so
Am Ende sieht jede Straße immer anders aus
ein Projekt eine Kunstgruppe erfindet und nicht ein Tourismusexperte. Das Glück daran ist: Bei „The
Walks“stellt sich – eben weil es in ein Kunstumfeld eingebettet ist – schnell heraus, dass das Billige
nicht banal sein muss, weil es so einfach geht, die sogenannten Highlights, die millionenfach abfotografierten Hotspots zu vermeiden. Vielfach erweisen sich Spielereien in der Art wie „The Walks“als dürftiger Ersatz für das übliche
Liveerleben. Bei der Sommerszene
besteht die Gefahr nicht. „The Walks“ergänzt das Angebot lebhafter darstellender Kunst auf der Bühne trefflich.
Das Partizipative, sprich die Teilnahme des Publikums, hat sich vom Kasperltheater weit in die Performance-Kunst vorgearbeitet. Oft ist das unerträglich, kaschiert bloß die
Einfallslosigkeit einer Show. Bei „The Walks“, entwickelt 2021 und weltweit einsetzbar, weil mittlerweile in sechs Sprachen abrufbar, ist die Partizipation aber eine feine Sache. Denn: Man ist schön allein mit seinem Smartphone.
Wobei: Was heißt allein? Man muss ja in den Supermarkt, an ein Gewässer oder an einen Kreisverkehr. Man begegnet zufällig Menschen. Manchmal wird man auch aufgefordert, welche anzusprechen (harte Prüfung, muss man sagen).
An anderer Stelle soll man eine Zeichnung machen. Immer wird
man gebeten, ein Foto zu schießen. Fotos auch anderer lassen sich in einer Galerie anschauen.
Zehn Startorte gibt es, um sich einen eigenen Weg zu schaffen. Die Reihenfolge, in der man den Wegen
folgt, spielt keine Rolle, auch nicht, ob man nur einen Weg geht oder alle. Auch der Zeitpunkt ist egal.
Kann also gut sein, dass einen schwerer Regenschauer erwischt.
Bei der Wahl der Begleitung, die zu einem spricht, setzen Rimini Protokoll auf „Experten“des Alltags. Da taucht dann eben Erdem Gündüz auf oder der Spaziergangswissenschafter Martin Schmitz oder der Choreograf Antonio Tagliarini, mit dem es durch einen Supermarkt
geht. Der Supermarkt ist auch der einzige „Walk“, an dem empfohlen
wird, ihn zu zweit zu machen. Sonst ist man allein und das macht den Blick weit und das Hirn frei. Und es hallt oft ein Satz nach, den man hört, wenn man sich für das Thema „Straßen“entschieden hat: Es lasse sich leicht erleben, dass wir es sehr
oft mit „Straßenverkehrsplanung anstatt mit Stadtplanung“zu tun
hätten.
In „The Walks“ist eine Straße, ein Friedhof oder auch ein Kreisverkehr eben nicht mehr nur Straße, Friedhof oder Kreisverkehr. Sie werden zu Schauplätzen des Kopftheaters. Erinnerungen keimen. Die Kurzhörspiele oder Dialoge, überraschende Assoziationen oder Bewegungsexperimente werden Wege, die man zu kennen scheint, und auch jeder üblichen Gewohnheit
entrissen. Das Vertraute kriegt ein anderes, ein frisches Gesicht. Das Gehen fördert Wachsamkeit. Man
wird Darsteller eines Stücks, das einem nur selbst gehört. Fast. Denn
bei der etwa elften Kreisverkehrsumrundung steht eine Frau da, fragt, ob sie was fragen darf, und fragt dann: „Finden Sie Ihren Weg denn nicht?“– „Doch … äh, na ja, es
gibt vielleicht gar keinen“, höre ich mich stottern.