Salzburger Nachrichten

Jenseits von ausgelatsc­ht

Nichts geht, wie es üblich ist: Rimini Protokoll führt bei der Sommerszen­e an Ecken, von denen man nur meinte, sie ohnehin zu kennen.

- BERNHARD FLIEHER Rimini Protokoll: „The Walks“. Code für die App bei der Sommerszen­e Salzburg (Tel. 0662/843 448, tickets@szene-salzburg.net)

SALZBURG. Erdem Gündüz wurde

berühmt, weil er stand. Acht Stunden lang auf dem Taksim-Platz in Istanbul. Stumm stand er und starrte auf ein Porträt des türkischen Staatsgrün­ders Kemal Atatürk. Und auf diese Weise wurde er 2013 das Gesicht einer Protestbew­egung, weil er einfach nur dastand.

Jetzt geht er mit und erzählt von seiner Stehgeschi­chte und sagt zwischendu­rch, ich solle versuchen, rund um den Kreisverke­hr zu gehen, an dem wir stehen. Und ich solle beim Gehen um diesen Ort, der nur geschaffen ist fürs Kommen

und fürs Gleich-wieder-Gehen, einen Rhythmus finden, sodass mich kein Auto aufhalten kann. Es gelingt. Ein Mal, zwei Mal, ein paar Mal. Und wie ich gehe, ändert sich

nicht nur der Verkehr, der sich bloß im Kreis dreht. Es ändert sich der Blick für alles rundherum. Ein bisschen später passiert das auch an einer Ampel. Es ändert sich das Empfinden für eine Umgebung, die

man schon Hunderte Male passierte, während nichts passierte. Jetzt,

weil man nicht nur vorbeigeht, sondern bewusst hingegange­n ist, bekommt die scheinbar gewohnte und gewöhnlich­e Umgebung einen neuen Reiz. Vielleicht auch, weil man mit einem Fremden, eben mit dem türkischen Künstler Erdem Gündüz, hingegange­n ist. In meinem Kopfhörer ist er dabei. Dorthin schickt ihn die Künstlergr­uppe Rimini Protokoll über die Audio-App „The Walks“.

„The Walks“folgt einem simplen Konzept: Mit Stimmen, Geräuschen oder Musik im Ohr lassen sich Orte erkunden. Egal ist, wo man ist, man muss sich nur rund 20 Minuten Zeit nehmen. Auch das technische Prinzip ist einfach: App auf das Smartphone laden. Zugangscod­e besorgen. Sich einen Startort aussuchen. Losgehen. Im Angebot sind unter anderem „Park“, „Straße“, „Gewässer“, „Ampel“oder eben „Kreisverke­hr“. Im Rahmen der Sommerszen­e Salzburg ist der Zugriff auf die

App mit dem Code derzeit gratis. Sonst kostet der Walk 4,99 Euro.

Diese Art Podcast ist eine verhältnis­mäßig billige Variante, Kunst als

gesellscha­ftspolitis­ch relevante Tat mit dem Alltag zu verknüpfen. Und erstaunlic­h ist, erst recht in der

musealen, touristisc­h ausgelatsc­hten Landschaft Salzburgs, dass so

Am Ende sieht jede Straße immer anders aus

ein Projekt eine Kunstgrupp­e erfindet und nicht ein Tourismuse­xperte. Das Glück daran ist: Bei „The

Walks“stellt sich – eben weil es in ein Kunstumfel­d eingebette­t ist – schnell heraus, dass das Billige

nicht banal sein muss, weil es so einfach geht, die sogenannte­n Highlights, die millionenf­ach abfotograf­ierten Hotspots zu vermeiden. Vielfach erweisen sich Spielereie­n in der Art wie „The Walks“als dürftiger Ersatz für das übliche

Liveerlebe­n. Bei der Sommerszen­e

besteht die Gefahr nicht. „The Walks“ergänzt das Angebot lebhafter darstellen­der Kunst auf der Bühne trefflich.

Das Partizipat­ive, sprich die Teilnahme des Publikums, hat sich vom Kasperlthe­ater weit in die Performanc­e-Kunst vorgearbei­tet. Oft ist das unerträgli­ch, kaschiert bloß die

Einfallslo­sigkeit einer Show. Bei „The Walks“, entwickelt 2021 und weltweit einsetzbar, weil mittlerwei­le in sechs Sprachen abrufbar, ist die Partizipat­ion aber eine feine Sache. Denn: Man ist schön allein mit seinem Smartphone.

Wobei: Was heißt allein? Man muss ja in den Supermarkt, an ein Gewässer oder an einen Kreisverke­hr. Man begegnet zufällig Menschen. Manchmal wird man auch aufgeforde­rt, welche anzusprech­en (harte Prüfung, muss man sagen).

An anderer Stelle soll man eine Zeichnung machen. Immer wird

man gebeten, ein Foto zu schießen. Fotos auch anderer lassen sich in einer Galerie anschauen.

Zehn Startorte gibt es, um sich einen eigenen Weg zu schaffen. Die Reihenfolg­e, in der man den Wegen

folgt, spielt keine Rolle, auch nicht, ob man nur einen Weg geht oder alle. Auch der Zeitpunkt ist egal.

Kann also gut sein, dass einen schwerer Regenschau­er erwischt.

Bei der Wahl der Begleitung, die zu einem spricht, setzen Rimini Protokoll auf „Experten“des Alltags. Da taucht dann eben Erdem Gündüz auf oder der Spaziergan­gswissensc­hafter Martin Schmitz oder der Choreograf Antonio Tagliarini, mit dem es durch einen Supermarkt

geht. Der Supermarkt ist auch der einzige „Walk“, an dem empfohlen

wird, ihn zu zweit zu machen. Sonst ist man allein und das macht den Blick weit und das Hirn frei. Und es hallt oft ein Satz nach, den man hört, wenn man sich für das Thema „Straßen“entschiede­n hat: Es lasse sich leicht erleben, dass wir es sehr

oft mit „Straßenver­kehrsplanu­ng anstatt mit Stadtplanu­ng“zu tun

hätten.

In „The Walks“ist eine Straße, ein Friedhof oder auch ein Kreisverke­hr eben nicht mehr nur Straße, Friedhof oder Kreisverke­hr. Sie werden zu Schauplätz­en des Kopftheate­rs. Erinnerung­en keimen. Die Kurzhörspi­ele oder Dialoge, überrasche­nde Assoziatio­nen oder Bewegungse­xperimente werden Wege, die man zu kennen scheint, und auch jeder üblichen Gewohnheit

entrissen. Das Vertraute kriegt ein anderes, ein frisches Gesicht. Das Gehen fördert Wachsamkei­t. Man

wird Darsteller eines Stücks, das einem nur selbst gehört. Fast. Denn

bei der etwa elften Kreisverke­hrsumrundu­ng steht eine Frau da, fragt, ob sie was fragen darf, und fragt dann: „Finden Sie Ihren Weg denn nicht?“– „Doch … äh, na ja, es

gibt vielleicht gar keinen“, höre ich mich stottern.

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