Eine Nelke verrät etwas über die Frau
Mit Farben, Symbolen und Balance lässt sich über Menschen und eine wilde Zeit erzählen.
WIEN. Die Blüte einer Nelke ist viel kleiner als das Gesicht einer Frau. Trotzdem gelingt es Lucas Cranach, dieses Blümlein der von ihm porträtierten Anna Cuspinian so zwischen zwei Finger zu geben, dass die blassrosa Blüte im unteren Drittel des Gemäldes zum Ebenbild des Gesichts samt Haube, Hals und
Dekolleté wird. Durch diese balancierte Komposition inmitten überreicher Details, durch das Blassrosa
von Blüte wie Teint und durch die zarte Bestimmtheit des Griffs der Finger wird die Kernaussage des Porträts formuliert: Anna Cuspinian, geborene Putsch, ist eine unbescholtene Frau und Braut.
Ihre goldenen Ringe, der goldene Gürtel, der in Gold gewebte Brustlatz – ebenfalls mit weißer Blüte –
vermitteln ebenso Reichtum wie die Blenden aus weichem Samt. Dessen Schwärze, die auf rotem Damast mit Granatapfelmuster hervorsticht, erzeugt einen weiteren Sinnzusammenhang: Anna Cuspinians Porträt ist nur die Hälfte eines Diptychons. Ihr Bräutigam Johannes trägt eine
üppige Schaube ebenfalls mit Granatapfelmuster und gleich sattschwarz wie Annas Riesenmanschetten. Sein Barett und das unter dem Pelzkragen hervorlugende Unterfutter sind so rot wie das Kleid der Braut. Beide sind einander zugeneigt, doch die Blicke treffen sich nicht, kein Deut an Verliebtheit ist auszumachen. Der 26-Jährige wirkt
versonnen, offenbar nach Erkenntnis strebend; die 18-Jährige schaut ernst und verantwortungsbewusst, offenbar in Richtung Mutterschaft.
Dieses exquisite Bildpaar darf seine Heimat an dem Ort seiner Entstehung
von 1502/03 für einen speziellen Anlass erstmals verlassen:
Die Sammlung Oskar Reinhart „Am Römerholz“in Winterthur verleiht es ans Kunsthistorische Museum in
Wien, weil beide ein bisher kaum erforschtes Feld aufbereiteten: die
frühen Schaffensjahre von Lucas Cranach dem Älteren in Wien. Nach Winterthur kommt „Cranach der Wilde“nun nach Wien und ist ab Dienstag, 21. Juni, zugänglich.
Wer Debatten auf der documenta in Kassel über Zügellosigkeit von Kunst verfolgt, wer sich mit der Kunst Cecily Browns in der Neuen Pinakothek in München befasst,
wird sich wundern, was an diesen sittsamen Bildern „wild“sein soll. Cranach habe mit damals neuer
Ausdrucksweise voller Farben und Emotion Auftraggeber wie Johannes und Anna Cuspinian begeistern können, heißt es im Pressetext.
Anlässlich deren Hochzeit habe er erstmals Porträtierte nicht in einem
Innenraum, sondern in einer Landschaft voller christlicher und humanistischer Symbole platziert.
Viele Details sind ikonografisch ungewöhnlich, etwa ein 1500 – also erst zwei Jahre zuvor – in Brasilien entdeckter Ara auf einem Ast hinter
Anna Cuspinian oder in der Luft über ihr der Kampf eines Habichts oder Falken mit einem Reiher.
Dafür sowie für den Uhu mit einem Fasan in den Krallen, der von sechs
verschiedenen Vögeln verfolgt
wird, gebe es eine Vielzahl von Interpretationsmöglichkeiten, schildert Kerstin Richter, Direktorin der Sammlung Oskar Reinhart, im Katalog. Dies verweise auf einen hohen literarischen, theologischen wie
philosophischen Anspruch der damaligen Wiener Bildungselite. Immerhin: Johannes Cuspinian kam aus Franken nach Wien, angezogen
von der Förderung humanistischer Studien unter Kaiser Friedrich III.
und dessen Sohn Maximilian I.; er studierte Medizin, wurde Rektor der Universität und zwei Mal Dekan der medizinischen Fakultät. Anna Putsch war Tochter des kaiserlichen Kämmerers und Schwester des späteren Vizekanzlers der Universität. Der beiden Ehediptychon gilt Kerstin Richter zufolge als „eines von Cranachs innovativsten Werken“.
Diese intellektuelle Wildheit im offenbar vibrierenden humanistischen Milieu Wiens ergänzt Cranach um Expressivität: Mit dieser Formensprache, „die in teils grotesk
verzerrte Körperbildungen mündet und alle Bildelemente gleichermaßen belebt erscheinen lässt“, sowie
mit diesen „Dynamisierungen“
werde Cranach zum Wegbereiter der „Donauschule“, schreibt Kurator Guido Messling im Katalog.
Diese Wildheit des jungen Lukas Cranach sollte sich nur bedingt fortsetzen, als er 1505 als Hofmaler des sächsischen Kurfürsten nach Wittenberg übersiedelte. Dort befreundete er sich mit Martin Luther, dort
begründete er eine große, hochproduktive Werkstatt, die ihn zu einem der populärsten Maler der deutschen Renaissance machen sollte.
Die Sonderausstellung des Kunsthistorischen Museums stellt Gemälde aus eigenen Beständen
wie „Der büßende heiligen Hieronymus“und die „Schottenkreuzigung“in sensationellen Zusammenhang: Mit Leihgaben unter anderem aus Wien, Berlin, Nürnberg, Zürich, Basel und Winterthur sind fast alle Tafelbilder und Holzschnitte Cranachs etwa von 1500 bis 1505 zu erkunden.
„Das Doppelporträt gilt als eines von Cranachs innovativsten Werken.“Kerstin Richter, „Am Römerholz“
Ausstellung: „Der wilde Cranach – Anfänge in Wien, Kunsthistorisches Museum, Wien, bis 16. Oktober.