Vor 20 Jahren wurde Europa poliofrei
2002 konnte die Kinderlähmung in Europa für ausgerottet erklärt werden. Global ist Polio aber noch nicht besiegt.
GENF. Melik Minas war nicht einmal drei Jahre alt, als er sich 1998 in der
Türkei mit dem Poliovirus ansteckte. Der Junge war nicht geimpft und
bekam Kinderlähmung. Melik, der sich nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) später etwas erholte, erlangte traurige Berühmtheit: Er war der letzte Fall von Polio in Europa. Wenige Jahre später, am 21. Juni 2002, erklärte die
WHO ihre Europa-Region mit mehr als 50 Ländern für poliofrei.
Der 20. Jahrestag ist ein Meilenstein, aber es sieht nicht in aller Welt rosig aus. Das Ziel, nach der Ausrottung der Pocken 1980 auch Polio zu besiegen, wurde bislang
verfehlt. Immer neue Konflikte,
vertriebene Bevölkerungen sowie die Coronapandemie dürften es gar in weitere Ferne gerückt haben.
Routine-Impfungen, zu denen auch Polio gehört, seien in den Pandemiejahren in vielen Ländern unterbrochen worden, sagt Oliver Rosenbauer von der Polio-Ausrottungsinitiative der WHO in Genf. „In einigen Regionen sind Kinder
nun einem höheren Risiko durch Infektionen wie Polio ausgesetzt“, sagt er. „Dadurch steigt auch das Risiko, das Polio sich international wieder ausbreitet.“
Polio – oder auch Kinderlähmung – ist eine ansteckende Infektionskrankheit, die Lähmungen auslösen und zum Tod führen kann. Vor allem bei Kleinkindern können dauerhafte Schäden bleiben. Verbreitet
wird das hochansteckende Virus oft durch verunreinigtes Wasser. Eine
vollständige Heilung gibt es bisher nicht.
In den vergangenen zehn Jahren wurden nach WHO-Angaben rund zehn Milliarden Impfdosen verabreicht. Ohne diesen Einsatz hätten nach ihren Angaben 6,5 Millionen Kinder die Krankheit bekommen. In Österreich ist der Polioschutz Teil
der empfohlenen Sechsfachimpfung
im dritten, fünften und zwölften Lebensmonat.
Das Risiko einer neuen Ausbreitung in zurzeit poliofreien Ländern ist real. Bis vor Kurzem zirkulierte das wilde Virus praktisch nur in Pakistan und Afghanistan, mit je einer Handvoll Fällen. Aber 2022 wurden erstmals seit 2016 wieder Fälle in Malawi gemeldet – und in Mosambik, eingeschleppt vermutlich aus Pakistan. Afrika war erst 2020 für poliofrei deklariert worden.
Auch in der WHO-Europa-Region, die sich von Turkmenistan bis
nach Israel erstreckt, kam es zu vereinzelten Fällen. So gab es nach Angaben des Robert-Koch-Instituts in Deutschland Anfang der 90er-Jahre drei Fälle, die aber keine Ausbreitung nach sich zogen. Zudem gibt es auch Einzelfälle, bei denen eine abgeschwächte Erkrankung durch Lebendimpfstoff ausgelöst wird: Weltweit waren es nach WHO-Angaben in zehn Jahren knapp 800 Fälle.
Der Schlüssel zu einer Polioausrottung sei das Ende des Wildvirus, sagt Rosenbauer. Zirkuliere dieses nicht mehr, seien Impfungen nicht mehr nötig und auch die Gefahr von Impfpolio beseitigt. „Solche Impftypen entwickeln sich nur dort, wo
nicht genügend geimpft wird“, sagt er. Das passierte nach Angaben der
Ausrottungsinitiative jüngst noch in Israel und der Ukraine – und zwar schon vor dem Krieg.
Pandemie hielt von Routine-Impfungen ab