Alles steht still
In Großbritannien finden seit Dienstag die größten Streiks seit dem Jahr 1989 statt. Es könnte erst der Anfang sein.
LONDON. Es galt für den Bahnhof in Plymouth im Südwesten Großbritanniens genauso wie für den Bahnhof in Glasgow im Norden: Wo sich normalerweise Hunderte Menschen drängen, herrschte gähnende Leere. Denn im Vereinigten Königreich finden seit Dienstag die größten Streiks seit über 30 Jahren statt. Mehr als 50.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Infrastrukturunternehmens National Rail sowie
von 15 Bahnunternehmen legten die Arbeit nieder. Die Streiks sollen am Donnerstag sowie am Samstag
fortgesetzt werden. Und das könnte erst der Anfang sein. Lehrer und Pflegepersonal wollen sich womöglich dem Ausstand anschließen.
Die britische Boulevardzeitung „The Daily Mail“verglich die Situation mit einem „landesweiten Lockdown“. Tatsächlich wurde das Reisen sowohl in städtischen als auch
ländlichen Regionen beträchtlich erschwert. Vor Busstationen bildeten sich riesige Menschentrauben und auf den Straßen entstanden
lange Staus. Schüler hatten es schwer, zu ihren Prüfungen zu kommen. Viele Britinnen und Briten
konnten gar nicht oder nur verspätet zu ihrer Arbeitsstelle gelangen.
Dies galt auch für Alice Aries. Die 30-jährige freiberufliche Gärtnerin
habe nicht gewusst, dass die Streiks ihre Reise von Glasgow nach Ayr im Südwesten Schottlands beeinträchtigen würden, erzählte sie. „Wenn ich nicht zur Arbeit komme, werde ich nicht bezahlt.“Sie verstehe den Streik, „aber er ist wirklich unpraktisch“. Nicht alle zeigten so viel Verständnis wie sie. Ty, ein junger Mann, der mit einem Zug von einem Bahnhof in London aus reisen wollte, bezeichnete die Streiks der
Arbeiter als unsolidarisch mit jenen Menschen in der Gesellschaft, die auf Züge angewiesen seien.
Der Chef der Gewerkschaft National Union of Rail, Maritime and
Transport Workers (RMT), Mike Lynch, rechtfertigte die Maßnahme damit, dass sie keine andere Möglichkeit sähen, um sich Gehör zu verschaffen. Stellen würden abgebaut, Sicherheitsstandards reduziert und Fahrkartenverkaufsstellen geschlossen, zählte er die Gründe auf. Außerdem solle die Arbeitszeit verlängert werden. Auf einen
Kompromiss konnte man sich bislang nicht einigen.
Premierminister Boris Johnson verurteilte die Streiks und bezeichnete sie am Dienstag als „so falsch
und so unnötig“. Er betonte, dass die britische Regierung die Branche
während der Pandemie mit mehreren Milliarden Pfund unterstützt
habe, und sagte, dass geplante Reformen die Komplexität des derzeitigen Eisenbahnsystems in Großbritannien verringern sollen.
Zugespitzt hat sich die Lage in den vergangenen Monaten für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bahn vor allem infolge der Pandemie, wie Matthew Gill, Experte
bei der Londoner Denkfabrik The Institute for Government, gegenüber dieser Zeitung erklärte: „Die Inflation in Großbritannien hat um
rund zehn Prozent zugenommen.“Dem stehe ein deutlich niedrigeres Lohnwachstum gegenüber.
Das Problem sei, dass die Unternehmen infolge der Pandemie und der damit einhergehenden niedrigeren Fahrgastzahlen in einer finanziell sehr schlechten Situation und immer noch von Hilfsleistungen durch den Staat abhängig seien. Und dieser zeigt sich bislang nicht
verhandlungsbereit, die Subventionen zu erhöhen.
Die Frage, ob die Streiks gerechtfertigt sind, ist Fachleuten zufolge
nicht einfach zu beantworten. Denn tatsächlich stünden die Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter des Infrastrukturunternehmens National Rail vor demselben Problem wie aktuell fast alle Arbeiter und
Angestellten in Großbritannien; mit dem Unterschied, dass sie eine starke Gewerkschaft im Rücken hätten. Ein Generalstreik aller Arbeiter im Land sei deshalb unwahrscheinlich.
Lehrergewerkschaften und solche, die Pflegepersonal des Gesundheitssystems NHS vertreten, denken jedoch durchaus darüber nach, im Kampf um höhere Löhne ebenfalls in den Streik zu treten. Insbesondere
für das Krankenhauspersonal sei es jedoch deutlich schwieriger, da die Mitarbeiter dazu verpflichtet sind, eine Grundversorgung zu gewährleisten – ansonsten gilt der Streik als illegal. Aktuell werden ähnliche Bestimmungen auch für Mitarbeiter von Bahnbetrieben diskutiert.
Wenn es so weit kommt, würden schließlich auch sie ihr stärkstes
Druckmittel verlieren.