„In Wohnungen haben wir nur Tote gefunden“
Wie ein deutscher Helfer unter Einsatz seines Lebens in der Ukraine Menschen aus umkämpften Städten herausholt.
Die letzte Flucht- und Versorgungsroute für die Zivilisten in der ostukrainischen Stadt Sjewjerodonezk ist mit der Zerstörung der einzigen bisher unbeschädigten Brücke über den Fluss Siwerskyj Donez unterbrochen. Patrick Münz von der Berliner Hilfsorganisation Leave No One Behind ist über diese Brücke gefahren, um Verletzte zu versorgen und Zivilisten aus der umkämpften Stadt zu retten. Sein Konvoi brachte in vier Tagen 187 Menschen aus der umkämpften Stadt
Sjewjerodonezk und der Nachbarstadt Lyssytschansk in Sicherheit.
SN: Herr Münz, wie geht es Ihnen?
Patrick Münz: Ich erhole mich gerade bei meiner Freundin auf Zypern. Ich kann meine Erlebnisse ganz gut
verarbeiten. Freunde und Familie helfen mir dabei. Ich will Anfang Juli wieder in den Donbass. Die Ukrainer bereiten sich auf die Verteidigung der Großstadt Slowjansk in der Region Donezk vor. Wir werden dann wohl dort im Einsatz sein.
SN:
Was haben Sie in den vergangenen Wochen erlebt?
Wir brachten über Polen Hilfsgüter in die Ukraine. Mit ukrainischen Partnern fahren wir in die umkämpften Regionen. Dort helfen
wir Verletzten und bringen Menschen in Sicherheit, die rauswollen.
Welche Menschen sind besonders auf Hilfe angewiesen?
SN:
Es sind oft Ältere, die in Sjewjerodonezk geblieben sind. Viele sind nicht mehr mobil. Sie schaffen es bei Beschuss nicht in die Keller und bleiben in ihren Wohnungen mit ein paar Flaschen Wasser. Der Rest der Bevölkerung sitzt im Bunker. Die alten Menschen können sich
kaum noch versorgen. Sie verdursten. Wir haben in den Wohnungen
nur noch Tote vorgefunden.
SN:
Die russische Armee setzt pausenlos Artillerie ein. Wie können solche Transporte überhaupt ans Ziel kommen?
Hilfskonvois sind gekennzeichnet.
Wir waren mit knallroten Fahrzeugen unterwegs. So sieht kein Militärkonvoi aus. Dennoch sind wir
beschossen worden. Einmal ist eine Clusterbombe, also Streumunition,
wenige Meter entfernt von unserem Konvoi eingeschlagen. Wenn die Sprengkörper unter unserem Fahrzeug explodiert wären, hätte uns auch die Panzerung nichts genützt.
Die Russen nehmen Helfer unter Beschuss?
SN:
Ich habe es so erlebt. Vielleicht
glauben sie, dass Hilfskonvois nur eine Tarnung sind, um Waffen in die
Stadt zu bringen. So stelle ich mir das vor. Es ist schwer zu begreifen, dass man Hilfstransporte oder Zentren für die Versorgung angreift.
SN:
Wir haben Schutzhelme und Westen und es gibt ein Protokoll, welche Einsätze in Bezug auf das eigene Risiko möglich sind. Wenn wir wissen,
dass da 50 Menschen, darunter Kinder,
Wie schützen Sie sich?
in Not sind, müssen wir schwierige Entscheidungen treffen. Wir
können abschätzen, wie intensiv der Beschuss ist.
Schlagen an einem Ort mehrere Geschosse ein, ist damit zu rechnen, dass noch was nachkommt. Das ist für uns Helfer jeden Tag eine Gratwanderung.
Wie schwer fällt die Entscheidung zwischen Hilfe und Selbstschutz?
SN:
Wir hatten eine schwierige Situation, als wir zwei Frauen in Sicherheit gebracht haben. Da war der Beschuss heftig. Wir suchten in einem
Keller Schutz, in dem viele Menschen ausharrten. Irgendwann kam
jemand zu uns und meinte, dass ein Geschoss in der Nähe in ein Haus eingeschlagen ist. Jemand lag unter den Trümmern. Wir sind dann raus,
um nach dem Verschütteten zu schauen. Er lebte noch und wir hörten ihn. Aber es war unmöglich, ihn da rauszubekommen, während wir
bombardiert werden. Wir mussten dann die Entscheidung treffen, dass da wir da nichts machen können.
SN:
Welchen Eindruck haben die Menschen in Sjewjerodonezk auf Sie gemacht?
Wir hatten die absurde Situation, dass wir zwei Frauen aus der Stadt herausbringen wollten und Schutz suchen mussten bei Menschen, die unbedingt bleiben
wollten. Wir haben auf sie eingeredet, mitzukommen, aber da war nichts zu machen.
Diejenigen, die wir mitgenommen haben, wollen in der Nähe der Stadt bleiben. Andere glauben, dass der Krieg bald vorbei ist. Außerdem sind meinem Eindruck nach viele in Sjewjerodonezk prorussisch eingestellt. Sie glauben russischen Medien. Viele sind sich nicht sicher, wer sie
beschießt, die Russen oder die Ukrainer.