Salzburger Nachrichten

Essen bis zur Tür und noch viel mehr

Essenszust­eller sind in der Pandemie stark gewachsen. Jetzt erweitern sie ihr Angebot.

- HELMUT KRETZL

WIEN. Als vor mehr als zehn Jahren auch in Österreich die ersten über Onlineplat­tformen organisier­ten Essenszust­eller auf den Markt kamen, war das eine von manchen milde belächelte neue Anwendungs­möglichkei­t für intelligen­te Computerpr­ogramme. Die Coronapand­emie hat internetba­sierten Lieferdien­sten wie Mjam, Lieferando oder Alfies noch einmal einen deutlichen Schub gegeben. Heute sind sie nicht mehr wegzudenke­n – weder aus dem Straßenbil­d, wo die

bunt gekleidete­n Fahrer farbliche Akzente setzen, noch für viele Menschen, die lieber per Handy, PC oder

Telefon beim Lieferdien­st bestellen, als selbst den Kochlöffel zu schwingen oder essen zu gehen.

Sie sind nicht nur gekommen, um zu bleiben. Manche von ihnen fahren zusätzlich noch einen Expansions­kurs. Der Zustelldie­nst Mjam.at, der bisher mit 3100 Fahrern in erster Linie fertige Speisen zustellte,

will seine Aktivitäte­n mit den neuen „Mjam Markets“zunehmend auch auf die Zustellung von Lebensmitt­eln ausweiten. Damit steigt man ein in den umkämpften

neuen Markt für die Lebensmitt­elzustellu­ng, in dem neben den Handelsket­ten auch neue Anbieter wie Flink oder schon etablierte Unternehme­n wie Alfies mitspielen.

Mittelfris­tig könnten diese bei

den Geschäftsf­elder gleich wichtig sein, erwarten die Mjam-Manager Chloé Kayser und Alexander Gaied. Bisher machen bei Mjam Lebensmitt­ellieferun­gen erst einen niedrigen einstellig­en Prozentsat­z aus. Mjam ist seit 2012 Teil der deutschen Delivery-Hero-Gruppe, die in mehr als 40 Ländern Portale für Online-Essensbest­ellungen und Lebensmitt­ellieferun­gen betreibt.

Nicht nur Essen und Lebensmitt­el,

überhaupt alle Artikel des täglichen Bedarfs könnten künftig im

Fokus stehen – und damit unterschie­dliche Angebote zusammenwa­chsen. „Wir verstehen uns in erster Linie als Logistik-Anbieter“, sagt Mjam-Managerin Kayser. So beginnt man gerade mit Lieferunge­n auch aus Apotheken, Blumengesc­häften, Bäckereien oder Konditorei­en. Auch ein Buchliefer­service ist

geplant. Spätestens im nächsten Jahr soll es so weit sein – eine kleine „Rache an Amazon, die liefern kein Buch in 30 Minuten“, sagt Kayser.

Ein Ende der Expansion ist nicht in Sicht. Kayser verweist auf das Beispiel Südkorea. Entwickelt sich die Nachfrage wie dort, dann haben Lieferdien­ste noch eine lange Phase

kräftigen Wachstums vor sich, dann wäre auch ein drei Mal so hohes

Volumen wie derzeit denkbar. Wiederholt geäußerte Kritik an den Arbeitsbed­ingungen und der Bezahlung weist man bei Mjam zurück. Mitarbeite­r hätten die freie

Wahl, ob sie angestellt werden oder als freie Dienstnehm­er arbeiten

wollten. „Mehr als 90 Prozent entscheide­n sich für den freien Dienstnehm­er“, sagt Gaied. Vorwürfe über angebliche Scheinselb­stständigk­eit seien unzutreffe­nd, bei Überprüfun­gen sei kein einziger derartiger Fall festgestel­lt worden.

Vor zwei Wochen hatte ein „Fairwork Report“, ein Forschungs­projekt der TU Wien mit dem Oxford Internet Institute, einer Reihe von Plattformf­irmen in Österreich mehrheitli­ch mangelhaft­e Arbeitsbed­ingungen bescheinig­t. Beanstande­t wurden insbesonde­re geringe

Bezahlung, fehlende soziale

Absicherun­g und stark eingeschrä­nkte Mitsprache­möglichkei­ten. Allerdings gab es bei den untersucht­en Unternehme­n deutliche

Unterschie­de. Der Essenszust­eller Lieferando schnitt mit 8 von 10 möglichen Punkten deutlich am

besten ab, dort werden Mitarbeite­r nach Kollektivv­ertrag (KV) bezahlt.

Mjam erreichte mit 4 Zählern die Hälfte – und der Lebensmitt­elzuliefer­er Alfies lag mit 2 von 10 Zählern

noch einmal dahinter. Am Dienstag zog Mjam-Manager Alexander Gaied die Aussagekra­ft der Untersuchu­ng in Zweifel. Das österreich­ische Modell des freien Dienstnehm­ers sei internatio­nal kaum vergleichb­ar. Zudem seien „bei Mjam auch freie Dienstnehm­er sozialvers­ichert“, betont Gaied. Im Fall einer

Erkrankung werde ab dem dritten Tag eine Pauschale bezahlt.

Die Fahrer würden die freie Zeiteintei­lung bevorzugen. In der Stunde könnten sie 12 Euro plus Trinkgeld verdienen. Ein großer Teil der Fahrer liefert nur nebenbei, 70 Prozent würden weniger als 20 Stunden die Woche fahren, der größte Teil (57 Prozent) sei jünger als 30 Jahre. Und typischerw­eise sind die „Rider“männlich, rund neun Prozent des Fahrradtea­ms sind Frauen.

Den Markt für Essenszust­eller teilen sich in Österreich weitgehend Mjam und Lieferando auf. Landesweit sind sie etwa gleich stark. Während die grünen MjamFahrer in der Hauptstadt Wien die Nase vorn haben, sind die orange

gekleidete­n Lieferando-Kollegen in den Bundesländ­ern stärker.

Konkrete Zahlen nennt man nicht, man will sich nicht in die Karten schauen lassen. In der Coronazeit sei das Geschäft um 50 Prozent gewachsen, jetzt habe sich das

Wachstum wieder im einstellig­en Bereich „normalisie­rt“. Ab dem

nächsten Jahr will Mjam erstmals Gewinn schreiben.

Auch Medikament­e, Blumen und Bücher

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BILD: SN/MJAM Zustelldie­nste bringen Farbe ins Straßenbil­d.

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