Essen bis zur Tür und noch viel mehr
Essenszusteller sind in der Pandemie stark gewachsen. Jetzt erweitern sie ihr Angebot.
WIEN. Als vor mehr als zehn Jahren auch in Österreich die ersten über Onlineplattformen organisierten Essenszusteller auf den Markt kamen, war das eine von manchen milde belächelte neue Anwendungsmöglichkeit für intelligente Computerprogramme. Die Coronapandemie hat internetbasierten Lieferdiensten wie Mjam, Lieferando oder Alfies noch einmal einen deutlichen Schub gegeben. Heute sind sie nicht mehr wegzudenken – weder aus dem Straßenbild, wo die
bunt gekleideten Fahrer farbliche Akzente setzen, noch für viele Menschen, die lieber per Handy, PC oder
Telefon beim Lieferdienst bestellen, als selbst den Kochlöffel zu schwingen oder essen zu gehen.
Sie sind nicht nur gekommen, um zu bleiben. Manche von ihnen fahren zusätzlich noch einen Expansionskurs. Der Zustelldienst Mjam.at, der bisher mit 3100 Fahrern in erster Linie fertige Speisen zustellte,
will seine Aktivitäten mit den neuen „Mjam Markets“zunehmend auch auf die Zustellung von Lebensmitteln ausweiten. Damit steigt man ein in den umkämpften
neuen Markt für die Lebensmittelzustellung, in dem neben den Handelsketten auch neue Anbieter wie Flink oder schon etablierte Unternehmen wie Alfies mitspielen.
Mittelfristig könnten diese bei
den Geschäftsfelder gleich wichtig sein, erwarten die Mjam-Manager Chloé Kayser und Alexander Gaied. Bisher machen bei Mjam Lebensmittellieferungen erst einen niedrigen einstelligen Prozentsatz aus. Mjam ist seit 2012 Teil der deutschen Delivery-Hero-Gruppe, die in mehr als 40 Ländern Portale für Online-Essensbestellungen und Lebensmittellieferungen betreibt.
Nicht nur Essen und Lebensmittel,
überhaupt alle Artikel des täglichen Bedarfs könnten künftig im
Fokus stehen – und damit unterschiedliche Angebote zusammenwachsen. „Wir verstehen uns in erster Linie als Logistik-Anbieter“, sagt Mjam-Managerin Kayser. So beginnt man gerade mit Lieferungen auch aus Apotheken, Blumengeschäften, Bäckereien oder Konditoreien. Auch ein Buchlieferservice ist
geplant. Spätestens im nächsten Jahr soll es so weit sein – eine kleine „Rache an Amazon, die liefern kein Buch in 30 Minuten“, sagt Kayser.
Ein Ende der Expansion ist nicht in Sicht. Kayser verweist auf das Beispiel Südkorea. Entwickelt sich die Nachfrage wie dort, dann haben Lieferdienste noch eine lange Phase
kräftigen Wachstums vor sich, dann wäre auch ein drei Mal so hohes
Volumen wie derzeit denkbar. Wiederholt geäußerte Kritik an den Arbeitsbedingungen und der Bezahlung weist man bei Mjam zurück. Mitarbeiter hätten die freie
Wahl, ob sie angestellt werden oder als freie Dienstnehmer arbeiten
wollten. „Mehr als 90 Prozent entscheiden sich für den freien Dienstnehmer“, sagt Gaied. Vorwürfe über angebliche Scheinselbstständigkeit seien unzutreffend, bei Überprüfungen sei kein einziger derartiger Fall festgestellt worden.
Vor zwei Wochen hatte ein „Fairwork Report“, ein Forschungsprojekt der TU Wien mit dem Oxford Internet Institute, einer Reihe von Plattformfirmen in Österreich mehrheitlich mangelhafte Arbeitsbedingungen bescheinigt. Beanstandet wurden insbesondere geringe
Bezahlung, fehlende soziale
Absicherung und stark eingeschränkte Mitsprachemöglichkeiten. Allerdings gab es bei den untersuchten Unternehmen deutliche
Unterschiede. Der Essenszusteller Lieferando schnitt mit 8 von 10 möglichen Punkten deutlich am
besten ab, dort werden Mitarbeiter nach Kollektivvertrag (KV) bezahlt.
Mjam erreichte mit 4 Zählern die Hälfte – und der Lebensmittelzulieferer Alfies lag mit 2 von 10 Zählern
noch einmal dahinter. Am Dienstag zog Mjam-Manager Alexander Gaied die Aussagekraft der Untersuchung in Zweifel. Das österreichische Modell des freien Dienstnehmers sei international kaum vergleichbar. Zudem seien „bei Mjam auch freie Dienstnehmer sozialversichert“, betont Gaied. Im Fall einer
Erkrankung werde ab dem dritten Tag eine Pauschale bezahlt.
Die Fahrer würden die freie Zeiteinteilung bevorzugen. In der Stunde könnten sie 12 Euro plus Trinkgeld verdienen. Ein großer Teil der Fahrer liefert nur nebenbei, 70 Prozent würden weniger als 20 Stunden die Woche fahren, der größte Teil (57 Prozent) sei jünger als 30 Jahre. Und typischerweise sind die „Rider“männlich, rund neun Prozent des Fahrradteams sind Frauen.
Den Markt für Essenszusteller teilen sich in Österreich weitgehend Mjam und Lieferando auf. Landesweit sind sie etwa gleich stark. Während die grünen MjamFahrer in der Hauptstadt Wien die Nase vorn haben, sind die orange
gekleideten Lieferando-Kollegen in den Bundesländern stärker.
Konkrete Zahlen nennt man nicht, man will sich nicht in die Karten schauen lassen. In der Coronazeit sei das Geschäft um 50 Prozent gewachsen, jetzt habe sich das
Wachstum wieder im einstelligen Bereich „normalisiert“. Ab dem
nächsten Jahr will Mjam erstmals Gewinn schreiben.
Auch Medikamente, Blumen und Bücher