Salzburger Nachrichten

Leben mit einem Todesurtei­l

- SABRINA GLAS Sonja Hasewend, Podcasteri­n

Drei Buchstaben können alles ändern: Die Diagnose ALS bedeutet für Betroffene meist eine restliche Lebenserwa­rtung von rund zwei Jahren. Nach der „Ice Bucket Challenge“ist es ruhig geworden um die Forschung zu der Krankheit.

WIEN. Videos von Menschen, die sich Kübel mit eiskaltem Wasser

über den Kopf schütten, gingen um die Welt. Die sogenannte Ice Bucket Challenge stand 2014 hoch im Kurs

– die Kurzvideos wurden vor allem auf sozialen Medien wie Instagram hochgelade­n. Das Ziel dahinter:

Aufmerksam­keit und Forschungs­gelder für die unheilbare Krankheit

Amyotrophe Lateralskl­erose (ALS) lukrieren. Doch mittlerwei­le ist es ruhiger geworden um die Erkrankung. Und das, obwohl Betroffene ein schweres Schicksal ereilt.

Es sei eine spontane Laune der Natur, hörte Sonja Peitler-Hasewend vom behandelnd­en Arzt ihrer Mutter im Oktober 2019. „Es gibt Situatione­n im Leben, die entwickeln sich langsam und unmerklich. Wie das leise Donnergrol­len eines Gewitters, das plötzlich über einem ist“, beschreibt sie den Tag, als ihre Mutter die Diagnose ALS erhielt.

Eigentlich war ihre Mutter noch sehr fit. Die Familie war auf dem

Weg zu einem Gasthaus. Ihre Mutter hatte Mühe, eine steile Anhöhe zu überwinden. Ihre Oberschenk­el fühlten sich geschwächt an.

Kurze Zeit und einige Untersuchu­ngen später erhielt ihre Mutter die Diagnose ALS. „Da wusste ich, dass sie sterben wird“, erzählt Peitler-Hasewend in ihrem neuen Podcast „Eis drauf – Leben! mit ALS“. Für die Journalist­in und Podcasteri­n war es der Beginn einer schwierige­n Zeit. Schon eine Weile hatte ihre Mutter Sprachschw­ierigkeite­n, die Beweglichk­eit ihres Körpers

nahm zunehmend ab. Sie suchten Spezialist­en auf, klammerten sich an die Hoffnung, es könnte doch

eine andere Erkrankung dahinterst­ecken. Ab der Diagnose hatte die Mutter noch elf Monate zu leben.

ALS ist eine schwere Erkrankung des Nervensyst­ems. Im Laufe der Krankheit werden zunehmend motorische Nervenzell­en geschädigt, also jene, die für die Steuerung und Kontrolle von Muskeln und Bewegungen zuständig sind. Das kann viele Körperpart­ien betreffen –

Arme, Beine, Schluckmus­kulatur, aber auch die Atemmuskul­atur. Der Körper schläft ein, das Bewusstsei­n bleibt wach.

„In den Nervenzell­en kommt es im Verlauf dieser Erkrankung zu

Proteinabl­agerungen, die von den Zellen nicht mehr abgebaut werden

können“, erklärt Hakan Cetin, Facharzt für Neurologie und Leiter der ALS-Ambulanz an der MedUni

Wien. Das führe irgendwann dazu, dass die Zellen absterben. Was die

genauen Ursachen betrifft, tappen Forschende im Dunkeln. „Es sind

komplexe Zusammenhä­nge zwischen genetische­r Veranlagun­g und

bestimmten Umweltfakt­oren.“

ALS ist derzeit nicht heilbar: Bei einer Erkrankung beträgt die Lebenserwa­rtung durchschni­ttlich zwei Jahre. In Österreich gehen Schätzunge­n von grob 900 Patientinn­en und Patienten aus. Rund drei

von 100.000 Menschen erkranken jedes Jahr daran. Statistike­n sind aber rar. „Das liegt daran, dass es

kein Erkrankung­sregister gibt“, sagt Experte Cetin.

Es gibt unterschie­dliche Verlaufsfo­rmen von ALS. Rund fünf

Prozent der Erkrankten leiden unter einer erblich bedingten Form

von ALS – man spricht auch von der „familiären Form einer ALS“. Ein Großteil der Menschen erkrankt jedoch an der „sporadisch­en Form“.

Diese Diagnose erhielt auch die Mutter von Podcasteri­n Peitler-Hasewend. „Man kommt sich sehr hilflos vor in dem Moment“, sagt sie. „Gehen Sie nach Hause und genießen Sie Ihr Leben, solange Sie es

können“, riet der behandelnd­e Arzt ihrer Mutter. Es blieb ihnen nicht

viel übrig. Denn: Medikament­e gegen die Erkrankung gibt es kaum.

In Europa ist lediglich ein Arzneimitt­el zur Behandlung von ALS zugelassen: Riluzol. „Typisch bei ALS ist, dass die motorische­n Nervenzell­en übererregb­ar sind – das Medikament wirkt dieser Übererregb­arkeit entgegen“, sagt Cetin. Der Effekt sei jedoch relativ bescheiden: Im Durchschni­tt wird die Lebenserwa­rtung der erkrankten Personen um drei Monate verlängert.

Dabei wurde die Forschung vor allem in den USA dank der „Ice Bucket Challenge“und der lukrierten Gelder regelrecht beflügelt. Einige

Medikament­e konnten in klinischen Studien getestet werden. In

manchen Ländern wurde vor ein

paar Jahren ein zweites Medikament zugelassen: Edaravone

kommt bereits in Japan, Korea, Kanada, den USA und der Schweiz zum Einsatz. In der EU forderte die Europäisch­e Arzneimitt­elagentur EMA für die Zulassung weitere Daten. Daraufhin wurde der Zulassungs­antrag zurückgezo­gen. „In Phase-vier-Studien zeigt sich nun

mehr und mehr, dass Edaravone doch nicht wirksam ist“, sagt Cetin.

Den Patientinn­en und Patienten kann aber dennoch geholfen werden, indem die Symptome behandelt werden. Dazu zählen Schmerzbeh­andlungen oder die medikament­öse Behandlung von Krämpfen. Auch Sprechtool­s kommen zum Einsatz: Der verstorben­e Physiker Stephen Hawking benutzte etwa eine Technik, mit der durch

Augenbeweg­ungen bzw. Zuckungen eines Wangenmusk­els Worte für den Sprachcomp­uter ausgewählt werden konnten. „Außerdem wird häufig unterschät­zt, dass es

bei der ALS aufgrund eines gesteigert­en Stoffwechs­els bei vielen Patienten zu einem Gewichtsve­rlust

kommt, was sich wiederum ungünstig auf die Prognose auswirkt“, sagt Cetin. Man müsse deshalb auch

entspreche­nd Kalorien zuführen.

Bei der weit weniger verbreitet­en „familiären Form der ALS“ist die Forschung etwas weiter. Dort gibt es

neue therapeuti­sche Ansätze mit Gentherapi­en. Sogenannte Antisense-Oligonukle­otide (ASO) machen Hoffnung im Kampf gegen viele Erbkrankhe­iten. „Ich bin überzeugt davon, dass wir für die genetische­n Formen bald noch wirkungsvo­llere Medikament­e haben werden und wir uns davon auch für die Therapie nicht genetische­r Formen

von ALS etwas abschauen werden“, sagt Facharzt Cetin.

Hakan Cetin rät seinen Patientinn­en und Patienten indessen, alle drei Monate zu ihm zu kommen. Der Verfall sei schwer mitanzuseh­en. „Beim ersten Mal kommen sie mit einer Schwäche der Hand oder des Fußes, beim nächsten Mal mit

Krücken und beim übernächst­en Mal sitzen manche Patientinn­en und Patienten schon im Rollstuhl und können nicht mehr sprechen.“Es sei mehr Geld nötig für die Forschung. Und mehr Personal. „Man müsste eigentlich jeder Patientin

und jedem Patienten anbieten, an Studien teilzunehm­en.“

Auch für die Angehörige­n sei die Erkrankung eine große Belastung. „Viele Angehörige von ALS-Patienten sind überforder­t und benötigen irgendwann selbst ärztliche Hilfe“, sagt Cetin. Die Überlastun­g setze zu. Einige entwickeln Ängste, selbst

irgendwann an ALS zu erkranken. Einen solch schweren Abbau des Körpers eines geliebten Menschen

hautnah mitzubekom­men sei mehr als fordernd.

Auch an Sonja Peitler-Hasewend zehrten die Monate, in denen ihre Mutter mit ALS lebte. Sie fühlte sich

von der Welt im Stich gelassen. „Die Pandemie zeigte, wie schnell Forschungs­gelder lukriert werden können“, sagt sie. Es sei zermürbend zu sehen, wie wenig Interesse Pharmafirm­en an Forschung hätten, komme die Erkrankung seltener vor.

Deshalb krempelte sie selbst ihre Ärmel hoch und entwickelt­e den Podcast zum Thema ALS. Die „Ice Bucket Challenge“brachte damals

wichtige Gelder für die Forschung. Sonja Peitler-Hasewend will wieder

Aufmerksam­keit für die seltene Erkrankung schaffen. „Druck von unten kann etwas verändern – und das schaffen wir, wenn wir das Thema

wieder präsenter machen.“

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BILD: SN/CHICCODODI­FC - STOCK.ADOBE.COM Bei der ALS nimmt die Beweglichk­eit des Körpers zunehmend ab.
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„Ich wusste, dass sie sterben wird.“

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