Von Kriegern zu Friedensstiftern
Einst waren sie Arbeitskollegen in Bosnien, dann machte sie der Krieg zu Feinden. Nun engagieren sich ein Bosniake, ein Serbe und ein Kroate für die Aussöhnung im Vielvölkerstaat.
SARAJEVO. Den Tag, als die Schrecken des Bosnienkriegs (1992 bis 1995) seine Heimatstadt erreichten, hat Rizo Salkić nie vergessen. „Wir wurden plötzlich von allen Seiten
beschossen. Ich konnte nicht fassen, was geschah“, erinnert sich der
heute 62-jährige Kriegsveteran im Café Tabasco in Maglaj an den 21.
September 1992, den Tag, als die Offensive der bosnisch-serbischen Armee (VRS) auf die Industriestadt
begann. Erst als er die Toten sah, habe er begriffen, dass das „kein Spiel ist“, sagt der Bosniake. „Ich dachte, es kann doch nicht wahr sein, dass wir uns im 20. Jahrhundert noch gegenseitig umbringen.“
Hell gleißt die Sonne auf die grünen Anhöhen über den graubraunen Fluten der Bosna. Von den Hügeln um Maglaj gelangte vor knapp 30 Jahren der Krieg in den Talkessel. In seinem Heimatdorf Bočinja stand der Serbe Boro Jevtić damals auf der anderen Seite der Front. „Wenn der Krieg kommt, gibt es kein Entkommen. Du bekommst ein Gewehr in die Hand gedrückt und wirst an die Front geschickt. Du verteidigst deine Familie, dein Haus, dein Land – und anfangs weißt du nicht einmal, gegen wen genau.“
Zerstörte Wohnblöcke, ausgebrannte Autos, Leichen auf den Straßen: Das Blutvergießen in der Ukraine ruft auch in Maglaj beklemmende Erinnerungen an den Bosnienkrieg wach. Als Kommandant der kroatischen HVO (Kroatischer Verteidigungsrat) erlebte Marko Zelić in der Siedlung Novi
Šeher den Kriegsbeginn. „Wir wurden gegeneinander in Stellung gebracht“, erinnert sich der 62-Jährige an den Kriegsausbruch. „Wir wussten weder, wer auf der anderen Seite der Front war, noch, warum man selbst auf dem Hügel stand.“
Einst waren sie Arbeitskollegen in der Papierfabrik in Maglaj, dann
machte der Krieg sie zu Feinden. Nun setzen sich Jevtić, Zelić und Salkić für die Aussöhnung im zerrissenen Vielvölkerstaat ein. Der unter der Schirmherrschaft der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE)
produzierte Film „Maglaj – Krieg und Frieden“, in dem die drei früheren Kriegskommandanten über ihre Kriegserfahrungen sprechen, sorgt in den ex-jugoslawischen Nachfolgestaaten für anhaltende Furore.
Über drei Jahre lang bekriegten sich drei Armeen in dem engen Tal
um Maglaj in wechselnden Bündnissen. Zu Kriegsbeginn verteidigten die bosniakische Armee (ARBIH) und die kroatische HVO gemeinsam die Stadt gegen die serbische VRS. 1993 wechselte die HVO die Fronten und riegelte gemeinsam mit der VRS die von der ARBIH gehaltene Stadt neun Monate lang
völlig ab, bevor sie 1994 erneut die Seite wechselte.
Vor dem Krieg waren 45 Prozent der damals 46.000 Einwohnerinnen
und Einwohner muslimische Bosniaken, 31 Prozent Serben und 19 Prozent Kroaten. Maglaj sei eine multiethnische Stadt gewesen, erinnert sich Salkić an die Vorkriegszeit: „Niemand interessierte es, wer welchen Namen trug oder Herkunft hatte.“Heute zählt die um die Hälfte der Bevölkerung geschrumpfte Stadt 2500 Kriegsgräber. Viele Menschen, die damals geflüchtet sind, kehrten nicht zurück. „Krieg ist eine Dummheit, bei der es keine Gewinner, nur Verlierer gibt“, sagt der Serbe Jevtić.
Drei Krieger dreier Armeen aus derselben Stadt: Nach der schweren Hochwasserkatastrophe von 2014
hatte der OSZE-Mitarbeiter Alen Ćosić – selbst ein Kriegsveteran – die einstigen Schul- und Arbeitskollegen zusammengebracht: „Ich kam damals auf die Idee, die Geschichte des Kriegs erneut erzählen zu lassen – aber dieses Mal aus der Perspektive der Versöhnung. Und das
von Leuten, die selbst gegeneinander gekämpft hatten.“
Er habe gewusst, dass es „schwierig“werden würde, die Geschichte des Kriegs so darzustellen, „dass dies von allen Seiten akzeptiert“werden würde: „Wir wollten zeigen, was für ein Horror dieser sinnlose Krieg für die Menschen auf allen Seiten war.“Proteste, Bombendrohungen
und ein starkes Polizeiaufgebot überschatteten 2018 die ersten Filmvorführungen in Maglaj
und in Doboj. „Bis auf den letzten Platz“sei das Kino gefüllt gewesen, erinnert sich Ćosić an die Premiere. „Für viele war es das erste Mal, dass sie einen früheren Feind über den Krieg sprechen hörten.“
Nach der Premiere in Maglaj sei ein Bosniake, der im Krieg sein fünfjähriges Kind verloren hatte, auf den Serben Jevtić zugelaufen. „Ich
kannte den Mann und war mir nicht sicher, ob wir nicht eingreifen sollten“, erzählt Ćosić. „Doch er streckte Jevtić die Hand aus, bedankte sich bei ihm und gratulierte ihm für den Mut, in dem Film über seine Erfahrungen gesprochen zu haben.“
Ob in Srebrenica, Mostar, Sarajevo oder Bijeljina – in über 50 Orten und allen Brennpunkten des Kriegs
haben Jevtić, Zelić und Salkić seitdem mit dem Publikum über den
Film und ihre Kriegserfahrungen diskutiert. „Mir sagte einmal eine Frau: Wenn ich euch drei sehe, weiß ich nicht, wer der Muslim, der Serbe und der Kroate ist“, erzählt Salkić.
Diejenigen, „die am Krieg beteiligt waren, können bessere Friedensbotschafter als jeder andere sein“, so die Erfahrung von Zelić. „Der Film entspannt die Atmosphäre
– macht die Leute nachdenklich
und offener gegenüber den anderen“, berichtet Ćosić. Er hätte „nie erwartet“, dass der Film „eine solch
große Sache“werden würde, sagt Salkić. Doch dessen Wirkung gehe
weit über das Land hinaus: „Wir beschrieben einfach, wie wir den Krieg erlebten, wie wir uns schon
vor dem Krieg kannten – und nach dem Krieg neu anfreundeten.“
In jeder Familie in Bosnien sei der Krieg ein Tabuthema, erklärt Jevtić den Erfolg des vermehrt auch von
TV-Sendern der Nachbarstaaten ausgestrahlten Films: „Alle wissen,
wie man den Krieg verschweigt. Und dann sehen die Leute, wie wir
über Erfahrungen sprechen, die sie selbst gemacht haben, und sagen: Ja, genau so war es.“
Der Krieg in der Ukraine ruft in Bosnien traumatische Erinnerungen wach, aber er hat auch das Interesse an der Versöhnungsmission der Veteranen von Maglaj neu entfacht. Die Bilder aus Mariupol seien für ihn „wie eine Wiederholung,
was wir selbst mitgemacht“haben, sagt Alen Ćosić: „Der Krieg in der
Ukraine zeigt uns, wie wichtig der Frieden ist. Wir Bosniaken, Serben und Kroaten müssen den Frieden
bewahren. Damit niemand mehr von außen zündeln kann.“