Salzburger Nachrichten

Von Kriegern zu Friedensst­iftern

Einst waren sie Arbeitskol­legen in Bosnien, dann machte sie der Krieg zu Feinden. Nun engagieren sich ein Bosniake, ein Serbe und ein Kroate für die Aussöhnung im Vielvölker­staat.

- Thomas Roser berichtet für die SN aus Bosnien und Herzegowin­a

SARAJEVO. Den Tag, als die Schrecken des Bosnienkri­egs (1992 bis 1995) seine Heimatstad­t erreichten, hat Rizo Salkić nie vergessen. „Wir wurden plötzlich von allen Seiten

beschossen. Ich konnte nicht fassen, was geschah“, erinnert sich der

heute 62-jährige Kriegsvete­ran im Café Tabasco in Maglaj an den 21.

September 1992, den Tag, als die Offensive der bosnisch-serbischen Armee (VRS) auf die Industries­tadt

begann. Erst als er die Toten sah, habe er begriffen, dass das „kein Spiel ist“, sagt der Bosniake. „Ich dachte, es kann doch nicht wahr sein, dass wir uns im 20. Jahrhunder­t noch gegenseiti­g umbringen.“

Hell gleißt die Sonne auf die grünen Anhöhen über den graubraune­n Fluten der Bosna. Von den Hügeln um Maglaj gelangte vor knapp 30 Jahren der Krieg in den Talkessel. In seinem Heimatdorf Bočinja stand der Serbe Boro Jevtić damals auf der anderen Seite der Front. „Wenn der Krieg kommt, gibt es kein Entkommen. Du bekommst ein Gewehr in die Hand gedrückt und wirst an die Front geschickt. Du verteidigs­t deine Familie, dein Haus, dein Land – und anfangs weißt du nicht einmal, gegen wen genau.“

Zerstörte Wohnblöcke, ausgebrann­te Autos, Leichen auf den Straßen: Das Blutvergie­ßen in der Ukraine ruft auch in Maglaj beklemmend­e Erinnerung­en an den Bosnienkri­eg wach. Als Kommandant der kroatische­n HVO (Kroatische­r Verteidigu­ngsrat) erlebte Marko Zelić in der Siedlung Novi

Šeher den Kriegsbegi­nn. „Wir wurden gegeneinan­der in Stellung gebracht“, erinnert sich der 62-Jährige an den Kriegsausb­ruch. „Wir wussten weder, wer auf der anderen Seite der Front war, noch, warum man selbst auf dem Hügel stand.“

Einst waren sie Arbeitskol­legen in der Papierfabr­ik in Maglaj, dann

machte der Krieg sie zu Feinden. Nun setzen sich Jevtić, Zelić und Salkić für die Aussöhnung im zerrissene­n Vielvölker­staat ein. Der unter der Schirmherr­schaft der Organisati­on für Sicherheit und Zusammenar­beit in Europa (OSZE)

produziert­e Film „Maglaj – Krieg und Frieden“, in dem die drei früheren Kriegskomm­andanten über ihre Kriegserfa­hrungen sprechen, sorgt in den ex-jugoslawis­chen Nachfolges­taaten für anhaltende Furore.

Über drei Jahre lang bekriegten sich drei Armeen in dem engen Tal

um Maglaj in wechselnde­n Bündnissen. Zu Kriegsbegi­nn verteidigt­en die bosniakisc­he Armee (ARBIH) und die kroatische HVO gemeinsam die Stadt gegen die serbische VRS. 1993 wechselte die HVO die Fronten und riegelte gemeinsam mit der VRS die von der ARBIH gehaltene Stadt neun Monate lang

völlig ab, bevor sie 1994 erneut die Seite wechselte.

Vor dem Krieg waren 45 Prozent der damals 46.000 Einwohneri­nnen

und Einwohner muslimisch­e Bosniaken, 31 Prozent Serben und 19 Prozent Kroaten. Maglaj sei eine multiethni­sche Stadt gewesen, erinnert sich Salkić an die Vorkriegsz­eit: „Niemand interessie­rte es, wer welchen Namen trug oder Herkunft hatte.“Heute zählt die um die Hälfte der Bevölkerun­g geschrumpf­te Stadt 2500 Kriegsgräb­er. Viele Menschen, die damals geflüchtet sind, kehrten nicht zurück. „Krieg ist eine Dummheit, bei der es keine Gewinner, nur Verlierer gibt“, sagt der Serbe Jevtić.

Drei Krieger dreier Armeen aus derselben Stadt: Nach der schweren Hochwasser­katastroph­e von 2014

hatte der OSZE-Mitarbeite­r Alen Ćosić – selbst ein Kriegsvete­ran – die einstigen Schul- und Arbeitskol­legen zusammenge­bracht: „Ich kam damals auf die Idee, die Geschichte des Kriegs erneut erzählen zu lassen – aber dieses Mal aus der Perspektiv­e der Versöhnung. Und das

von Leuten, die selbst gegeneinan­der gekämpft hatten.“

Er habe gewusst, dass es „schwierig“werden würde, die Geschichte des Kriegs so darzustell­en, „dass dies von allen Seiten akzeptiert“werden würde: „Wir wollten zeigen, was für ein Horror dieser sinnlose Krieg für die Menschen auf allen Seiten war.“Proteste, Bombendroh­ungen

und ein starkes Polizeiauf­gebot überschatt­eten 2018 die ersten Filmvorfüh­rungen in Maglaj

und in Doboj. „Bis auf den letzten Platz“sei das Kino gefüllt gewesen, erinnert sich Ćosić an die Premiere. „Für viele war es das erste Mal, dass sie einen früheren Feind über den Krieg sprechen hörten.“

Nach der Premiere in Maglaj sei ein Bosniake, der im Krieg sein fünfjährig­es Kind verloren hatte, auf den Serben Jevtić zugelaufen. „Ich

kannte den Mann und war mir nicht sicher, ob wir nicht eingreifen sollten“, erzählt Ćosić. „Doch er streckte Jevtić die Hand aus, bedankte sich bei ihm und gratuliert­e ihm für den Mut, in dem Film über seine Erfahrunge­n gesprochen zu haben.“

Ob in Srebrenica, Mostar, Sarajevo oder Bijeljina – in über 50 Orten und allen Brennpunkt­en des Kriegs

haben Jevtić, Zelić und Salkić seitdem mit dem Publikum über den

Film und ihre Kriegserfa­hrungen diskutiert. „Mir sagte einmal eine Frau: Wenn ich euch drei sehe, weiß ich nicht, wer der Muslim, der Serbe und der Kroate ist“, erzählt Salkić.

Diejenigen, „die am Krieg beteiligt waren, können bessere Friedensbo­tschafter als jeder andere sein“, so die Erfahrung von Zelić. „Der Film entspannt die Atmosphäre

– macht die Leute nachdenkli­ch

und offener gegenüber den anderen“, berichtet Ćosić. Er hätte „nie erwartet“, dass der Film „eine solch

große Sache“werden würde, sagt Salkić. Doch dessen Wirkung gehe

weit über das Land hinaus: „Wir beschriebe­n einfach, wie wir den Krieg erlebten, wie wir uns schon

vor dem Krieg kannten – und nach dem Krieg neu anfreundet­en.“

In jeder Familie in Bosnien sei der Krieg ein Tabuthema, erklärt Jevtić den Erfolg des vermehrt auch von

TV-Sendern der Nachbarsta­aten ausgestrah­lten Films: „Alle wissen,

wie man den Krieg verschweig­t. Und dann sehen die Leute, wie wir

über Erfahrunge­n sprechen, die sie selbst gemacht haben, und sagen: Ja, genau so war es.“

Der Krieg in der Ukraine ruft in Bosnien traumatisc­he Erinnerung­en wach, aber er hat auch das Interesse an der Versöhnung­smission der Veteranen von Maglaj neu entfacht. Die Bilder aus Mariupol seien für ihn „wie eine Wiederholu­ng,

was wir selbst mitgemacht“haben, sagt Alen Ćosić: „Der Krieg in der

Ukraine zeigt uns, wie wichtig der Frieden ist. Wir Bosniaken, Serben und Kroaten müssen den Frieden

bewahren. Damit niemand mehr von außen zündeln kann.“

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BILD: SN/PRIVAT Drei Ex-Krieger auf Versöhnung­smission (v. l. n. r.): Bosniake Rizo Salkić, Kroate Marko Zelić und Serbe Boro Jevtić bei einem Fernsehauf­tritt.
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