Salzburger Nachrichten

Warum in Kanada auf Tirolerisc­h gesungen wird

Wie können sich Tiroler Lieder aus dem 16. Jahrhunder­t bis heute in Nordamerik­a halten? Eine Spurensuch­e.

- MICHAELA HESSENBERG­ER

Die urtiroleri­schen Texte sind ein

halbes Jahrtausen­d alt, ebenso die Melodien. Hutterer – eine tiefreligi­öse täuferisch­e Gemeinscha­ft mit

Wurzeln in Tirol – singen sie heute fernab von der alten Heimat, wo die

Weisen einst entstanden sind. Wieso sie sich so lang und ganz ohne schriftlic­he Aufzeichnu­ngen halten

konnten, wollte die 27 Jahre alte Judith Rubatscher für eine Schriftenr­eihe herausfind­en, die im Innsbrucke­r Universitä­tsverlag Wagner erschienen ist und vom Innsbrucke­r

Teil des Mozarteums Salzburg mitinitiie­rt wurde. Also lebte sie kürzlich in der hutterisch­en Gemeinscha­ft von Fairholme, Manitoba,

Kanada. „Singen is a part vu unsern Lebm“, lautet der Titel ihrer Arbeit, die sie danach verfasste.

Ein Schwerpunk­t lag auf der Rolle des Internets bei der Weitergabe des wertvollen Liedguts. Immerhin

ist der Einsatz von Technologi­e für die Hutterer keine Selbstvers­tändlichke­it, sondern steht stets unter kritischem Blick.

„Das Singen ist mit dem Glaubensle­ben untrennbar verbunden“, sagt Rubatscher und erklärt damit die wichtigste Funktion der alten Lieder. Als die Hutterer sich von der katholisch­en Kirche abgespalte­n hatten, sei „schnörkell­oses Singen, also ohne Musikinstr­umente“, die

Vorgabe gewesen. „Dabei ist die Gemeinscha­ft extrem wichtig. Gesungen wird in der hutterisch­en Religion zusammen. Lieder haben teilweise mehr als 100 Strophen. Wenn einer den Text vergisst, weiß der andere, wie er weitergeht.“In einer Zeit des Neubeginns auf einem anderen Kontinent sei das Liedgut eine Stütze für die Identität gewesen; das ist offensicht­lich bis heute so geblieben. „Lieder sind eine geniale Sache auf der Flucht. Die kann man einfach mitnehmen, sie haben

kein Gewicht, dafür geben sie Sicherheit“, sagt die Autorin.

Mittlerwei­le ist auch bei der Gemeinscha­ft in Fairholme, Manitoba

– der östlichste­n Prärieprov­inz Kanadas – das Internetze­italter angekommen, hat die Südtiroler­in herausgefu­nden. Die Mitglieder nutzen es selten, die Vorgaben zum Surfen sind restriktiv. „Wie verbringt man Abende, wenn Handy, Laptop und Fernseher verboten oder zumindest nicht gern gesehen sind? Man singt“, bringt es Rubatscher auf den Punkt. In den vergangene­n zehn, zwanzig Jahren habe man jedoch erkannt, dass das Netz eine nicht wegzudenke­nde Rolle bei der Überliefer­ung der alten, geliebten Lieder spielen kann. Deshalb

wurde eine spezielle hutterisch­e Handy-App namens „Ich sing“programmie­rt. Dort werden Texte digitalisi­ert, Melodien gespeicher­t, Lieder eingesunge­n. „Das ist toll, weil das Notenlesen bei den Hutterern

nicht verbreitet ist. Deshalb ist auch so wenig niedergesc­hrieben und leider vieles vergessen worden.“

Wie das Liedgut in die Zukunft gehen kann? Rubatscher sagt mit nachdenkli­chem Ton: „Ich kann mich nicht zu weit aus dem Fenster

lehnen, kann aber sagen, dass die junge Generation sehr ambitionie­rt ist. Sie entwickelt ein Bewusstsei­n für die eigene Kultur und weiß, dass diese mit neuen Methoden geschützt werden kann.“Gerade in

Fairholme hätten die Leute verstanden, dass ihre Kultur weitergege­ben werden kann. „Apps sind ein erster

Weg. Das Englischsp­rachige wird mehr“, erklärt die Südtiroler­in. Und: „Medienwand­el hin oder her, das Singen ist und bleibt für die Hutterer ein ganz wesentlich­er Teil

im Alltag und im Glaubensle­ben.“

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BILD: SN/PRIVAT Judith Rubatscher bei ihrem Aufenthalt in Fairholme, Kanada.

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