Warum in Kanada auf Tirolerisch gesungen wird
Wie können sich Tiroler Lieder aus dem 16. Jahrhundert bis heute in Nordamerika halten? Eine Spurensuche.
Die urtirolerischen Texte sind ein
halbes Jahrtausend alt, ebenso die Melodien. Hutterer – eine tiefreligiöse täuferische Gemeinschaft mit
Wurzeln in Tirol – singen sie heute fernab von der alten Heimat, wo die
Weisen einst entstanden sind. Wieso sie sich so lang und ganz ohne schriftliche Aufzeichnungen halten
konnten, wollte die 27 Jahre alte Judith Rubatscher für eine Schriftenreihe herausfinden, die im Innsbrucker Universitätsverlag Wagner erschienen ist und vom Innsbrucker
Teil des Mozarteums Salzburg mitinitiiert wurde. Also lebte sie kürzlich in der hutterischen Gemeinschaft von Fairholme, Manitoba,
Kanada. „Singen is a part vu unsern Lebm“, lautet der Titel ihrer Arbeit, die sie danach verfasste.
Ein Schwerpunkt lag auf der Rolle des Internets bei der Weitergabe des wertvollen Liedguts. Immerhin
ist der Einsatz von Technologie für die Hutterer keine Selbstverständlichkeit, sondern steht stets unter kritischem Blick.
„Das Singen ist mit dem Glaubensleben untrennbar verbunden“, sagt Rubatscher und erklärt damit die wichtigste Funktion der alten Lieder. Als die Hutterer sich von der katholischen Kirche abgespalten hatten, sei „schnörkelloses Singen, also ohne Musikinstrumente“, die
Vorgabe gewesen. „Dabei ist die Gemeinschaft extrem wichtig. Gesungen wird in der hutterischen Religion zusammen. Lieder haben teilweise mehr als 100 Strophen. Wenn einer den Text vergisst, weiß der andere, wie er weitergeht.“In einer Zeit des Neubeginns auf einem anderen Kontinent sei das Liedgut eine Stütze für die Identität gewesen; das ist offensichtlich bis heute so geblieben. „Lieder sind eine geniale Sache auf der Flucht. Die kann man einfach mitnehmen, sie haben
kein Gewicht, dafür geben sie Sicherheit“, sagt die Autorin.
Mittlerweile ist auch bei der Gemeinschaft in Fairholme, Manitoba
– der östlichsten Prärieprovinz Kanadas – das Internetzeitalter angekommen, hat die Südtirolerin herausgefunden. Die Mitglieder nutzen es selten, die Vorgaben zum Surfen sind restriktiv. „Wie verbringt man Abende, wenn Handy, Laptop und Fernseher verboten oder zumindest nicht gern gesehen sind? Man singt“, bringt es Rubatscher auf den Punkt. In den vergangenen zehn, zwanzig Jahren habe man jedoch erkannt, dass das Netz eine nicht wegzudenkende Rolle bei der Überlieferung der alten, geliebten Lieder spielen kann. Deshalb
wurde eine spezielle hutterische Handy-App namens „Ich sing“programmiert. Dort werden Texte digitalisiert, Melodien gespeichert, Lieder eingesungen. „Das ist toll, weil das Notenlesen bei den Hutterern
nicht verbreitet ist. Deshalb ist auch so wenig niedergeschrieben und leider vieles vergessen worden.“
Wie das Liedgut in die Zukunft gehen kann? Rubatscher sagt mit nachdenklichem Ton: „Ich kann mich nicht zu weit aus dem Fenster
lehnen, kann aber sagen, dass die junge Generation sehr ambitioniert ist. Sie entwickelt ein Bewusstsein für die eigene Kultur und weiß, dass diese mit neuen Methoden geschützt werden kann.“Gerade in
Fairholme hätten die Leute verstanden, dass ihre Kultur weitergegeben werden kann. „Apps sind ein erster
Weg. Das Englischsprachige wird mehr“, erklärt die Südtirolerin. Und: „Medienwandel hin oder her, das Singen ist und bleibt für die Hutterer ein ganz wesentlicher Teil
im Alltag und im Glaubensleben.“