Die doppelte Reifeprüfung
807 geflüchtete Elftklassler treten ab dem 22. Juli in Wien zur ukrainischen OnlineFernmatura an. 90 von ihnen lernen geschützt in einem temporären „Bildungs-Start-up“.
WIEN. Maturajahr. Die härtesten Prüfungen haben Margaryta, Maria
und Taras schon hinter sich. Margaryta berichtet von ihrer Flucht aus Charkiw nach Wien. „Es war wie in einem Horrorfilm“, sagt sie. „Wir
konnten nichts mitnehmen, als die Kampfflugzeuge überm Haus waren.“20 Stunden mit Mutter, Oma und dem kleinen Bruder stehend im unbeleuchteten Zug nach Lwiw. An der polnischen Grenze zehn Stunden Anstellen bei Schnee und Eiseskälte. „Ich hatte Erfrierungen an den Beinen.“Maria erinnert sich an
bebende Häuserwände, an ein Flugzeug, das auf das Nachbarhaus abstürzte und acht Menschen tötete,
und an 18 Stunden Warterei vor der Grenze. Taras wollte überhaupt
nicht weg, aus der Ukraine. Er fuhr im März als Freiwilliger nach Rumänien, um Medikamente zu besorgen
und sie in sein Land zu bringen. Für seinen Jugendtraum, Kampfpilot zu
werden, ist er noch zu jung. Für die Matura nicht – die macht man in der
Ukraine nach der elften Klasse mit 17. Unter normalen Umständen hätten Margaryta, Maria und Taras die Matura schon in der Tasche.
Den Schulabschluss der 11. Klasse haben die drei 17-Jährigen bereits, den haben alle ukrainischen
Abschlussklassler, egal, ob sie in der Ukraine leben oder fliehen
mussten, durch ein Gesetz vom 1. April bekommen. Genau an dem Tag startete in Wien in einem ehemaligen Bankgebäude am Neuen Markt ein Bildungsprojekt, das in
kürzester Zeit aus dem Boden gestampft wurde. Das „Ukrainische
Bildungszentrum Wien“begann mit drei Lehrern – nach zwei Wochen
waren es 14. 120 ukrainische Schülerinnen und Schüler der zehnten und elften Schulstufe können dort lernen und einen sicheren Hafen unter Gleichaltrigen finden – so wie Margaryta, Maria und Taras. Die 90 Elftklassler werden ab 22. Juli zur ukrainischen Online-Matura, dem UniZugangstest, antreten. Erst seit zwei
Wochen weiß man, wie dieser kriegsbedingt abgespeckte „Nationale Multifachtest“ablaufen wird: ein 120-Minuten-Onlinetest mit je 20 Fragen oder Aufgaben aus Mathematik, Ukrainisch und Geschichte.
Projektleiterin Iryna Khamayko erzählt, wie ihr Mann, der als Ju
gendlicher aus Abchasien fliehen musste, das schmerzhafte Déjà-vu der massenhaften Flucht junger Menschen aus der Ukraine erlebte
und in einem Raiffeisen-BankerJour-fixe auf die Idee kam, den Schülern Strukturen und Normalität zu geben und ihnen zu ermöglichen, die Schule abzuschließen.
Ein leerstehendes Bankgebäude wurde bis Ende August zur Verfügung gestellt, zum Teil in höchstpersönlichen Wochenendeinsätzen der Banker ausgeräumt und ausgestattet. Zugleich wurden in der
ukrainischen Community Schüler des Abschlussjahrgangs und Lehrer gesucht. Bald gab es lange Listen,
bald Wartelisten für die Schüler. Büros und Sitzungszimmer sind
jetzt Klassenräume. Die Kosten von 65.000 Euro im Monat teilen sich Stadt Wien, Raiffeisen Centrobank
und Stepic CEE Charity. Das Bildungszentrum wurde vom ukrainischen Bildungsministerium für die Organisation des Nationalen Multifachtests in Österreich zertifiziert. 807 ukrainische Schüler aus ganz Österreich haben sich für den Test, der von der Uni Wien abgewickelt
wird, angemeldet, 90 bereiten sich im Bildungszentrum vor. Die übrigen mussten teils über ukrainische Lernplattformen, die von Lehrern und NGOs bereitgestellt wurden,
lernen – so wie viele Schüler in der Ukraine. Der Test läuft zeitgleich auch in der Ukraine und anderen EU-Ländern. Früher gab es zwei Pflichtfächer und Wahlfächer, je nach angestrebter Studienrichtung.
Nach der Matura geht es für die Schüler im Bildungszentrum im August ans intensive Deutschlernen.
Um in den Vorstudienlehrgang der Uni Wien zu kommen, braucht man eine Deutschprüfung auf Level A2.
Anfangs wollten längst nicht alle Deutsch lernen, viele dachten, dass sie ganz schnell zurückkönnten. Das stellte sich als Wunschdenken
heraus. Projektleiterin Khamayko: „Wir wollen den Kindern den Gedanken vermitteln, zu bleiben, in zwei, drei Jahren etwas zu erreichen und dann mit Wissen und Sprachkenntnissen zurückzugehen.“
Manche der Schülerinnen und Schüler haben keine dramatischen Erfahrungen gemacht, andere sind
buchstäblich auf Panzern geflüchtet. Sorgen haben alle. Im Bildungszentrum gibt es auch das regelmäßige traumapsychologische Programm „safe space“, an dem 70 der Schüler in acht Gruppen teilnehmen.
Die Erfahrungen sind sehr unterschiedlich, auch in Österreich,
manche sind ohne Eltern da, manche im Schutz der ganzen Familie.
Der Kontakt zur Heimat ist intensiv und oft belastend. „Die Schule hier und meine neuen Freunde helfen, nicht nur an den Krieg und an meine Probleme zu denken. Aber wenn ich nach Hause komme und meine Mutter erzählt, ganz Charkiw ist ohne Strom, kann ich nicht mehr ans Lernen denken“, erklärt Margaryta.
Für die Schüler sei das Bildungszentrum ein Stück Heimat, sagt Direktorin Viktorya Hryaban. „Hier
haben wir eine Mini-Ukraine.“Die Schüler haben die so wichtigen Beziehungen zu Gleichaltrigen, sie lieben das Essen in der Kantine und sie entdecken Wien mit Ausflügen
und Stadterkundungen, wo es auch einmal darum ging, ob Kolschitzky, der 1683 Kaffee in Wien ausschenkte, Pole oder doch Ukrainer war.
Schule in der Ukraine ist sehr leistungsorientiert. Aus österreichischer Sicht wird dort härter gepaukt. Disziplin und Respekt vor den Lehrern sind ausgeprägter.
Margaryta, Maria und Taras finden das Schulsystem in der Ukraine nicht so streng. „Für uns ist das normal. Du musst lernen, aber dafür gehst du ja in die Schule. Es kommt
wirklich auf dich an“, sagt Maria. In der Ukraine gibt es ein Notensystem von eins bis zwölf. Taras: „Es ist schwierig, einen Zwölfer zu kriegen. Es sollte nicht so sein – aber es gibt Lehrer, die haben die Regel, niemandem eine Zwölf zu geben.“
„Das Bildungszentrum hier ist ein toller Ort, es macht es einfach, sich zu konzentrieren“, sagt Maria. „Hier habe ich meine Freunde und
Klassenkameraden und vergesse für einige Stunden, pausenlos an den Krieg zu denken. Und ich kann
mich auf die Matura vorbereiten. Die brauche ich, um in der Ukraine auf die Uni zu gehen. Es war immer
mein Traum, in Lwiw zu studieren.“
„Und selbst wenn wir zurückkönnen, es wird nie mehr so sein, wie es war.“Margaryta, ukrainische Maturantin „Hier habe ich Freunde und vergesse, pausenlos an den Krieg zu denken.“Maria, ukrainische Maturantin
Maria hat sich dort schon beworben „Ich hab mich aber auch für einige Fachhochschulen in Österreich beworben. Das ist eine Art Plan B.“
Viele Freunde von Margaryta in Charkiw haben nicht die Möglichkeit, sich vorzubereiten. „Sehr viele Schulen in Charkiw sind zerstört, es sind auch keine Lehrer mehr da.“Marias Freundin Mascha, die immer noch in Charkiw lebt, kann nicht in die Schule gehen und muss oft raus aus der Wohnung mit den zerstörten Fenstern, wenn die Bomben kommen. „Aber sie wird versuchen, die Matura zu machen. “Margaryta will unbedingt zurück. „Aber man kann nicht sagen, wann. Und selbst wenn wir zurückkönnen, es wird nie mehr so sein, wie es war.“
Maria möchte Psychologie studieren, um traumatisierten Menschen zu helfen. „Wäre ich älter,
würde ich jetzt zum Militär gehen. Es sind viele Frauen im Militär.“Mit der Matura als größter Prüfung im Leben braucht den jungen Schülern
niemand zu kommen. „Die Matura ist kein Stress und kein Problem, die Situation unseres Landes ist ein riesiges Problem. Wir können uns hier gut vorbereiten – wenn es nicht
klappt, machen wir die Matura nächstes Jahr. Wir hätten viel lieber, dass der Krieg endet, aber wir können ihn nicht beenden.“