Salzburger Nachrichten

In die Einzelhaft des eigenen Ichs verjagt

Die Isolation ist das Motiv, das beim Bachmann-Preis die Beiträge eines starken Jahrgangs verbindet.

- ANTON THUSWALDNE­R

KLAGENFURT. Ein erstaunlic­her Jahrgang. Das Niveau der Texte, die

bei den 46. Tagen der deutschspr­achigen Literatur vorgetrage­n werden, ist bestechend. Ungewöhnli­ch

viele sind dabei, über die sich nicht nur ernsthaft diskutiere­n lässt, sie

geben obendrein Auskunft über die mentale und soziale Verfassung unserer Gegenwart.

Ist es den Folgen der Pandemie geschuldet, dass so oft ein Ich aufscheint, das aus einem eingehaust­en Leben heraus die Welt beobachtet? Es ist zurückgewo­rfen auf eine in sich versponnen­e Identität, so wie es im Text „Wechselkrö­te“von

Ana Marwan der Fall ist. Eine Frau hat sich selbst aus dem Spiel genommen. Sie lebt isoliert in einem Haus mit Garten, und was sich als der Traum so vieler Menschen erweist, wird zur Hölle der Klaustroph­obie. Sie verbarrika­diert sich, die

Außenkonta­kte sind beschränkt, der Briefträge­r kommt vorbei, ein Gärtner, das war’s wohl.

Und dann stellt sich eine Schwangers­chaft ein. Die Sparsamkei­t der Mittel und die beschränkt­e Bereitscha­ft des Ichs, die Karten auf den Tisch zu legen, lassen letzte Klarheit über die Ereignisse oder

über das Nichtgesch­ehen nicht zu. Dass aus der Einsamkeit heraus

imaginiert­e Wirklichke­iten an Bedeutung gewinnen, liegt nahe: „Die

kommenden Tage ist mein Leben nichts mehr als eine konkrete Vorstellun­g.“Es folgen Szenen eines

möglichen Lebens, bunt ausgemalt, durch keine Begebenhei­ten aus der Erfahrung beglaubigt.

Der Juror Philipp Tingler, immer für schräge Beobachtun­gen gut, sah nicht den Rückzug einer Frau dargestell­t, sondern einen Beleg für die spätmodern­e Befindlich­keit, unbedingt gesehen werden zu müssen.

Ana Marwan, die ernsthafte Kandidatin für einen Preis.

Der Tod ist auch ein Käfig für das Ich. Die Enkelin beobachtet das

langsame Sterben ihrer Großmutter, die in Klammersät­zen selbst zu

Wort kommt: „(Zu nichts bin ich mehr nütze. Was soll ich denn noch

hier?)“Zaghaft die Beobachter­in der Enkelin: „Ich sehe ihre blassgraue­n Augen, auch in ihnen stand jetzt das Wasser.“

In Eva Sichelschm­idts Text „Der Körper meiner Großmutter“ist

gleich von einer doppelten Ausgeschlo­ssenheit die Rede. Das Sterben schafft Distanz zwischen den Generation­en. Der einen bleibt nur zuzusehen, wie eine verfällt, Körperdefi­zite machen das sichtbar. Die andere findet nicht mehr in die Alltagsrou­tine, ist auf die Erinnerung angewiesen, um eine Ahnung von den Möglichkei­ten ihres früheren Ichs zu erlangen.

Isolations­haft, zum Dritten. Bei Leon Engler lernen wir einen jungen Mann kennen, dessen Ambitionen an der rauen Wirklichke­it zerkrachen. Eigentlich fühlt er sich als

Schauspiel­er, die Aufträge reichen

nur zu einem Model-Job auf Abruf. Er ist einer, über den verfügt wird, ein Leiharbeit­er der Modewelt, abgekapsel­t in seinem kleinen Ich mit unfreiwill­ig reduzierte­m Leben. Da er die Tristesse nicht wahrhaben

will, redet er sich selbst eine Größe an, von der er weit entfernt ist. Die Ironie ist eine Stärke des Textes.

Bei Alexandru Bulucz wurde es umgehend still. Als er seinen Text

vortrug, war bald deutlich, dass Besonderes geschah. Der Autor wurde 1987 in Rumänien geboren und

übersiedel­te mit seinen Eltern im Jahr 2000 nach Deutschlan­d. Hatte man seinen Gedichtban­d „was Petersilie über die Seele weiß“gelesen, fiel einem das außergewöh­nliche Sprachbewu­sstsein des Verfassers auf. Dass er auch Prosa schrieb, blieb bislang unbekannt.

Jetzt also der Text „Einige Landesgren­zen weiter östlich, von hier aus gesehen“, der Auszug aus einem

größeren work in progress, das, wie Bulucz meint, wohl noch Jahre in

Anspruch nehmen wird. Wieder einer, der sich in seine Innenwelt

verabschie­det, um mit der draußen

nicht zu intensiv in Berührung zu kommen. Als „Konsequenz­enfürchtig­en“, „Gefühlsinv­aliden“und „entgeister­ten Heimatunfä­higen“sieht ihn der Erzähler, womit eine typische Flüchtling­sindividua­lität benannt ist. Bulucz blendet zurück in die

Achtzigerj­ahre, als im Land „weiter östlich, von hier aus gesehen“, eine Gaskrise zu zahlreiche­n Todesfälle­n unter der Bevölkerun­g in einem kalten Winter führt.

Friedrich Schiller, Walter Benjamin, große Namen werden ins Treffen geführt, wenn sich die Jury die Texte zurechtleg­t, um

über sie Gewissheit zu erlangen. So wird entweder mit Kanonen auf Spatzen geschossen, wenn die Texte solchen Vorgaben nicht entspreche­n, oder sie werden zu

hoch bewertet, wenn man sie in dieser Gesellscha­ft gut aufgehoben sieht.

Das Niveaugefä­lle unter den Diskutiere­nden ist eklatant. Zwischen sachlicher Arbeit am Text

und Geschwätzi­gkeit ist einiges möglich.

Von Teilzeit-Models und „Gefühlsinv­aliden“

 ?? BILD: SN/ORF/JOHANNES PUCH ?? Außergewöh­nliches Sprachbewu­sstsein: Alexandru Bulucz beim Bachmann-Bewerb.
BILD: SN/ORF/JOHANNES PUCH Außergewöh­nliches Sprachbewu­sstsein: Alexandru Bulucz beim Bachmann-Bewerb.

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