In die Einzelhaft des eigenen Ichs verjagt
Die Isolation ist das Motiv, das beim Bachmann-Preis die Beiträge eines starken Jahrgangs verbindet.
KLAGENFURT. Ein erstaunlicher Jahrgang. Das Niveau der Texte, die
bei den 46. Tagen der deutschsprachigen Literatur vorgetragen werden, ist bestechend. Ungewöhnlich
viele sind dabei, über die sich nicht nur ernsthaft diskutieren lässt, sie
geben obendrein Auskunft über die mentale und soziale Verfassung unserer Gegenwart.
Ist es den Folgen der Pandemie geschuldet, dass so oft ein Ich aufscheint, das aus einem eingehausten Leben heraus die Welt beobachtet? Es ist zurückgeworfen auf eine in sich versponnene Identität, so wie es im Text „Wechselkröte“von
Ana Marwan der Fall ist. Eine Frau hat sich selbst aus dem Spiel genommen. Sie lebt isoliert in einem Haus mit Garten, und was sich als der Traum so vieler Menschen erweist, wird zur Hölle der Klaustrophobie. Sie verbarrikadiert sich, die
Außenkontakte sind beschränkt, der Briefträger kommt vorbei, ein Gärtner, das war’s wohl.
Und dann stellt sich eine Schwangerschaft ein. Die Sparsamkeit der Mittel und die beschränkte Bereitschaft des Ichs, die Karten auf den Tisch zu legen, lassen letzte Klarheit über die Ereignisse oder
über das Nichtgeschehen nicht zu. Dass aus der Einsamkeit heraus
imaginierte Wirklichkeiten an Bedeutung gewinnen, liegt nahe: „Die
kommenden Tage ist mein Leben nichts mehr als eine konkrete Vorstellung.“Es folgen Szenen eines
möglichen Lebens, bunt ausgemalt, durch keine Begebenheiten aus der Erfahrung beglaubigt.
Der Juror Philipp Tingler, immer für schräge Beobachtungen gut, sah nicht den Rückzug einer Frau dargestellt, sondern einen Beleg für die spätmoderne Befindlichkeit, unbedingt gesehen werden zu müssen.
Ana Marwan, die ernsthafte Kandidatin für einen Preis.
Der Tod ist auch ein Käfig für das Ich. Die Enkelin beobachtet das
langsame Sterben ihrer Großmutter, die in Klammersätzen selbst zu
Wort kommt: „(Zu nichts bin ich mehr nütze. Was soll ich denn noch
hier?)“Zaghaft die Beobachterin der Enkelin: „Ich sehe ihre blassgrauen Augen, auch in ihnen stand jetzt das Wasser.“
In Eva Sichelschmidts Text „Der Körper meiner Großmutter“ist
gleich von einer doppelten Ausgeschlossenheit die Rede. Das Sterben schafft Distanz zwischen den Generationen. Der einen bleibt nur zuzusehen, wie eine verfällt, Körperdefizite machen das sichtbar. Die andere findet nicht mehr in die Alltagsroutine, ist auf die Erinnerung angewiesen, um eine Ahnung von den Möglichkeiten ihres früheren Ichs zu erlangen.
Isolationshaft, zum Dritten. Bei Leon Engler lernen wir einen jungen Mann kennen, dessen Ambitionen an der rauen Wirklichkeit zerkrachen. Eigentlich fühlt er sich als
Schauspieler, die Aufträge reichen
nur zu einem Model-Job auf Abruf. Er ist einer, über den verfügt wird, ein Leiharbeiter der Modewelt, abgekapselt in seinem kleinen Ich mit unfreiwillig reduziertem Leben. Da er die Tristesse nicht wahrhaben
will, redet er sich selbst eine Größe an, von der er weit entfernt ist. Die Ironie ist eine Stärke des Textes.
Bei Alexandru Bulucz wurde es umgehend still. Als er seinen Text
vortrug, war bald deutlich, dass Besonderes geschah. Der Autor wurde 1987 in Rumänien geboren und
übersiedelte mit seinen Eltern im Jahr 2000 nach Deutschland. Hatte man seinen Gedichtband „was Petersilie über die Seele weiß“gelesen, fiel einem das außergewöhnliche Sprachbewusstsein des Verfassers auf. Dass er auch Prosa schrieb, blieb bislang unbekannt.
Jetzt also der Text „Einige Landesgrenzen weiter östlich, von hier aus gesehen“, der Auszug aus einem
größeren work in progress, das, wie Bulucz meint, wohl noch Jahre in
Anspruch nehmen wird. Wieder einer, der sich in seine Innenwelt
verabschiedet, um mit der draußen
nicht zu intensiv in Berührung zu kommen. Als „Konsequenzenfürchtigen“, „Gefühlsinvaliden“und „entgeisterten Heimatunfähigen“sieht ihn der Erzähler, womit eine typische Flüchtlingsindividualität benannt ist. Bulucz blendet zurück in die
Achtzigerjahre, als im Land „weiter östlich, von hier aus gesehen“, eine Gaskrise zu zahlreichen Todesfällen unter der Bevölkerung in einem kalten Winter führt.
Friedrich Schiller, Walter Benjamin, große Namen werden ins Treffen geführt, wenn sich die Jury die Texte zurechtlegt, um
über sie Gewissheit zu erlangen. So wird entweder mit Kanonen auf Spatzen geschossen, wenn die Texte solchen Vorgaben nicht entsprechen, oder sie werden zu
hoch bewertet, wenn man sie in dieser Gesellschaft gut aufgehoben sieht.
Das Niveaugefälle unter den Diskutierenden ist eklatant. Zwischen sachlicher Arbeit am Text
und Geschwätzigkeit ist einiges möglich.
Von Teilzeit-Models und „Gefühlsinvaliden“