Buchstabieren, ganz leicht gemacht
Über Ungerechtigkeiten im Bus und bei der Rechtschreibung.
Es sei ungerecht, höre ich im Bus eine Frau sagen, dass die öffentlichen Verkehrsmittel nur freitags gratis zu benutzen seien. Das sei ungerecht, sagt sie, weil sie freitags selten, aber montags und mittwochs immer mit dem Bus zur Therapie fahren müsse. Auch im Sommer.
Und so muss sie sich weiter grämen. Die Aktion der Salzburger Verkehrsbetriebe endet ja
nicht wie zunächst geplant in dieser Woche.
Sie geht in die Verlängerung. Schön, dass nicht alles Gute begraben wird, so wie die Bedeutung der Klarheit in der Sprache. Freilich ist es beim Busfahren schwieriger. Und das ist ungerecht.
Wer sich ans Gratisfahren gewöhnt hat, vergisst womöglich auch an anderen Tagen aufs Zahlen. Dann kommt ein Kontrolleur und man
muss dann Strafe zahlen, bloß weil man sich an das Gute gewöhnt hat. Das Nachdenken
über solche Ungerechtigkeiten öffnet aber nicht nur im Bus die Büchse der Pandora. Da gerät man leicht in einen gefährlichen Strudel.
Vor einiger Zeit etwa hat das Deutsche Institut für Normung die offizielle Buchstabiertabelle
überarbeitet und mittlerweile offiziell gemacht.
Man wollte tilgen, was die Nazis einführten. Etwa Siegfried für S, Nordpol für N und Zeppelin für Z. Überlegt wurde eine Rückkehr zum
Vor-Nazi-System. Bevor die Nazis kamen, bestand die Tabelle größtenteils aus Vornamen. Nathan für N, zum Beispiel, Samuel für S und
Zacharias für Z. Was für eine Ungerechtigkeit! Nur Männernamen. Frauen waren nur durch Berta und Paula vertreten. Das Mann-Frau-Verhältnis dieser Buchstabiertabelle sieht etwa so aus, wie das auf unseren Teenagerpartys war. Ungerecht. Aussichtslos. Überhaupt stürzt einen das Nachdenken über Ungerechtigkeiten in ein schier aussichtsloses Dilemma. Müssen beim Buchstabieren radikal formulierte Vorlieben bei der Ernährung berücksichtigt werden? Also könnte ein Leberknödel für L durch einen Tofu für T kompensiert werden? Was ist beim Buchstabieren mit den anderen Religionen?
Würde ein Mohammed für M ein Golgotha für G aufwiegen? Der Kreuzigungsort Golgotha hat es übrigens freilich nicht geschafft, aber andere Orte haben es geschafft. Die neue deutsche Buchstabiertabelle besteht ausschließlich aus
Städtenamen, darunter Salzwedel, Wuppertal oder Ingelheim. In Österreich übrigens gibt es seit 2019 gar keine offizielle Buchstabierliste mehr. Hier wurde die ÖNORM A 1081 mit dem Titel „Richtlinien für die Diktiersprache“im Jahr 2019 ohne Ersatz zurückgezogen. Im Grunde kann jeder buchstabieren, wie er will, also kann man auch Nazi für N sagen oder
Korruption für K oder Schlampigkeit für S oder Ibiza für I. Da herrscht eine neue Freiheit so
wie bei der Rechtschreibung, die in der Bewertung bei Deutschschularbeiten auch keine besonders wichtige Rolle mehr spielt. Im Gegensatz zum Ohne-Ticket-Busfahren wird keiner
bestraft, wenn man von der Existenz des Abc zwar gehört hat, das Abc aber kaum mehr korrekt einsetzen kann. Gibt ja eine Rechtschreibkorrektur. Das zuständige Institut, das in Österreich für die Buchstabiertabelle zuständig
wäre, heißt übrigens schon länger nicht mehr Österreichisches Normungsinstitut, sondern
Austrian Standards International.