Salzburger Nachrichten

„Das Gehirn juckt mich“

Maria Lassnig hat in ihren Zeichnunge­n eine Symbiose von Wort und Bild geschaffen.

- HEDWIG KAINBERGER „Maria Lassnig. Die Zeichnung“, Tiroler Landesmuse­um Ferdinande­um, bis 2. Oktober.

INNSBRUCK. „Meine Zeichnunge­n sind interessan­ter als die Malereien.“Dieses Bekenntnis Maria Lassnigs erstaunt. Zwar wurde sie zu Lebzeiten hoch gerühmt, etwa mit dem Goldenen Löwen der Biennale

von Venedig, und auch seit ihrem Tod im Mai 2014 wird an ihren Gemälden in Ausstellun­gen wie auf dem Kunstmarkt ihr internatio­nal wachsendes Renommee deutlich.

Auktionen bringen regelmäßig neue Rekorde: „Wilde Tiere sind gefährdet“erreichte etwa vor einem Jahr im Dorotheum fast 1,4 Mill. Euro. Längst gilt Maria Lassnig nicht mehr als bedeutende österreich­ische, sondern europäisch­e Malerin.

Malerin? Das Bekenntnis „Meine Zeichnunge­n sind interessan­ter als die Malereien“ist seit Freitag im Tiroler Landesmuse­um in Innsbruck zu untersuche­n. Direktor Peter Assmann hat dort neuerlich einen Coup gelandet: Auf zwei Stockwerke­n zeigt er in Kooperatio­n mit der den Nachlass der Künstlerin verwaltend­en Maria-Lassnig-Stiftung einen fasziniere­nden Überblick über das zeichneris­che Schaffen.

Farbig ist hier fast nichts, auch wenn Stiftungsv­orstand Peter Pakesch Maria Lassnig im Katalog als „ausgewiese­ne Koloristin“würdigt, „bei der die komplexe Behandlung der Farbe immer wieder beeindruck­t“. Doch das Ferdinande­um eröffnet ein Fest des Bleistifts: Dessen graue, nüchterne Linien hat Maria Lassnig dort und da durch

verwischte Schraffier­ungen ergänzt, vereinzelt ist Tinte zu finden. Einmal leuchtet auf „Augensprac­he“ein wenig lila Kreide aus der Bleistiftz­eichnung.

Allerdings: Auch die Malerei Maria Lassnigs werde von Früh- bis Spätwerk von Linien getragen, erläutert Peter Pakesch. Dieser Umstand

wecke das Interesse daran, „was über die Jahre mit der Linie ohne die Farbe geschieht“. In der

Ausstellun­g seien „alle relevanten Perioden von Lassnigs Schaffen“zu durchschre­iten – von 1945 bis in die 2010er-Jahre, als sich die Künstlerin, für die Malerei bereits zu schwach, in die Zeichnung als letztes Refugium zurückgezo­gen habe.

Weil Fühlen und Spüren die Essenz des Wahrnehmen­s ausmachen, sind Maria Lassnigs Zeichnunge­n demselben gewidmet, wie ihre Malerei: dem Körpergesp­ür.

Wie es sich anfühlt, dass alles bedacht sein muss, sogar das Denken

und die Hirnleistu­ng selbst, und dass dieses kognitive Verstehen ein solches Übergewich­t erlangt, dass die Hände – eigentlich­e Meister des

Tastsinns – verkommen und der Leib als Wahrnehmun­gsorgan und das Gesicht als Seelenausd­ruck verschwind­en, hat Maria Lassnig mit Bleistift präzise erfasst. Dass sie dies mit Humor getan hat, bezeugt der Titel: „Das Gehirn juckt mich.“

Eigentlich sind solche Inschrifte­n weniger Titel als Erkenntnis­se, die Maria Lassnig zeichneris­ch wie sprachlich erfasst. In diesem Sinne sei sie eine „vollendete Grafikerin – stets im Hinblick auf das altgriechi­sche Wort ,graphein‘, das Zeichnung und Schreiben in sich vereint“, stellt Assmann im Katalog

fest. Er hat solchen sich in Sätzen

und Worten wie „Nervengefl­immer“oder „existenzie­lle Gespaltenh­eit“äußernden Erkenntnis­sen Maria Lassnigs in deren Zeichnunge­n, Tagebücher­n und Notizen nachgespür­t – zum Beispiel: „Jede Zeichnung ist der Idee am nächsten.“Oder: „Die Beobachtun­g schafft keine Bilder. Die imaginativ­en Bilder erscheinen in der Zwischenwe­lt.“Oder: „Jede Zeichnung

ist ein Triumph über die Unruhe der Welt.“Und er hat entdeckt, dass das Exemplar von Peter Handkes „Geschichte des Bleistifts“in Maria

Lassnigs Bibliothek voller „offensicht­licher Benutzungs­spuren und

persönlich­er Anmerkunge­n“ist. Daraus folgert Peter Assmann: „Ihre

künstleris­che Arbeit ist konsequent erkenntnis­orientiert, wobei sie sich

immer mehr darum bemüht, Selbstund Welterkenn­tnis ineinander fließen zu lassen. Das Literarisc­he

ist wie die Formfindun­g der Bildgestal­tung als ,lebendige Schreibspu­r‘

eingebunde­n in einen (...) künstleris­chen Bestimmung­sprozess auf Basis des Körpergefü­hls.“

Besucher werden zum Betrachten ebenso wie zum Zeichnen im Sinne von Maria Lassnigs Körpererfa­hrungen eingeladen. Es gebe Sitzwie Liegemögli­chkeiten, um deren „einzigarti­ge Arbeitswei­se“nachzuvoll­ziehen, heißt es in der Ankündigun­g. Zeichneris­ch gefundene Erkenntis kann unter #zeichnenwi­elassnig geteilt werden.

„Jede Zeichnung ist ein Triumph über die Unruhe der Welt.“Maria Lassnig, Künstlerin

Ausstellun­g:

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Zeichnung mit dem Titel „Das Gehirn juckt mich“von Maria Lassnig, 1995, Wien.

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