„Das Gehirn juckt mich“
Maria Lassnig hat in ihren Zeichnungen eine Symbiose von Wort und Bild geschaffen.
INNSBRUCK. „Meine Zeichnungen sind interessanter als die Malereien.“Dieses Bekenntnis Maria Lassnigs erstaunt. Zwar wurde sie zu Lebzeiten hoch gerühmt, etwa mit dem Goldenen Löwen der Biennale
von Venedig, und auch seit ihrem Tod im Mai 2014 wird an ihren Gemälden in Ausstellungen wie auf dem Kunstmarkt ihr international wachsendes Renommee deutlich.
Auktionen bringen regelmäßig neue Rekorde: „Wilde Tiere sind gefährdet“erreichte etwa vor einem Jahr im Dorotheum fast 1,4 Mill. Euro. Längst gilt Maria Lassnig nicht mehr als bedeutende österreichische, sondern europäische Malerin.
Malerin? Das Bekenntnis „Meine Zeichnungen sind interessanter als die Malereien“ist seit Freitag im Tiroler Landesmuseum in Innsbruck zu untersuchen. Direktor Peter Assmann hat dort neuerlich einen Coup gelandet: Auf zwei Stockwerken zeigt er in Kooperation mit der den Nachlass der Künstlerin verwaltenden Maria-Lassnig-Stiftung einen faszinierenden Überblick über das zeichnerische Schaffen.
Farbig ist hier fast nichts, auch wenn Stiftungsvorstand Peter Pakesch Maria Lassnig im Katalog als „ausgewiesene Koloristin“würdigt, „bei der die komplexe Behandlung der Farbe immer wieder beeindruckt“. Doch das Ferdinandeum eröffnet ein Fest des Bleistifts: Dessen graue, nüchterne Linien hat Maria Lassnig dort und da durch
verwischte Schraffierungen ergänzt, vereinzelt ist Tinte zu finden. Einmal leuchtet auf „Augensprache“ein wenig lila Kreide aus der Bleistiftzeichnung.
Allerdings: Auch die Malerei Maria Lassnigs werde von Früh- bis Spätwerk von Linien getragen, erläutert Peter Pakesch. Dieser Umstand
wecke das Interesse daran, „was über die Jahre mit der Linie ohne die Farbe geschieht“. In der
Ausstellung seien „alle relevanten Perioden von Lassnigs Schaffen“zu durchschreiten – von 1945 bis in die 2010er-Jahre, als sich die Künstlerin, für die Malerei bereits zu schwach, in die Zeichnung als letztes Refugium zurückgezogen habe.
Weil Fühlen und Spüren die Essenz des Wahrnehmens ausmachen, sind Maria Lassnigs Zeichnungen demselben gewidmet, wie ihre Malerei: dem Körpergespür.
Wie es sich anfühlt, dass alles bedacht sein muss, sogar das Denken
und die Hirnleistung selbst, und dass dieses kognitive Verstehen ein solches Übergewicht erlangt, dass die Hände – eigentliche Meister des
Tastsinns – verkommen und der Leib als Wahrnehmungsorgan und das Gesicht als Seelenausdruck verschwinden, hat Maria Lassnig mit Bleistift präzise erfasst. Dass sie dies mit Humor getan hat, bezeugt der Titel: „Das Gehirn juckt mich.“
Eigentlich sind solche Inschriften weniger Titel als Erkenntnisse, die Maria Lassnig zeichnerisch wie sprachlich erfasst. In diesem Sinne sei sie eine „vollendete Grafikerin – stets im Hinblick auf das altgriechische Wort ,graphein‘, das Zeichnung und Schreiben in sich vereint“, stellt Assmann im Katalog
fest. Er hat solchen sich in Sätzen
und Worten wie „Nervengeflimmer“oder „existenzielle Gespaltenheit“äußernden Erkenntnissen Maria Lassnigs in deren Zeichnungen, Tagebüchern und Notizen nachgespürt – zum Beispiel: „Jede Zeichnung ist der Idee am nächsten.“Oder: „Die Beobachtung schafft keine Bilder. Die imaginativen Bilder erscheinen in der Zwischenwelt.“Oder: „Jede Zeichnung
ist ein Triumph über die Unruhe der Welt.“Und er hat entdeckt, dass das Exemplar von Peter Handkes „Geschichte des Bleistifts“in Maria
Lassnigs Bibliothek voller „offensichtlicher Benutzungsspuren und
persönlicher Anmerkungen“ist. Daraus folgert Peter Assmann: „Ihre
künstlerische Arbeit ist konsequent erkenntnisorientiert, wobei sie sich
immer mehr darum bemüht, Selbstund Welterkenntnis ineinander fließen zu lassen. Das Literarische
ist wie die Formfindung der Bildgestaltung als ,lebendige Schreibspur‘
eingebunden in einen (...) künstlerischen Bestimmungsprozess auf Basis des Körpergefühls.“
Besucher werden zum Betrachten ebenso wie zum Zeichnen im Sinne von Maria Lassnigs Körpererfahrungen eingeladen. Es gebe Sitzwie Liegemöglichkeiten, um deren „einzigartige Arbeitsweise“nachzuvollziehen, heißt es in der Ankündigung. Zeichnerisch gefundene Erkenntis kann unter #zeichnenwielassnig geteilt werden.
„Jede Zeichnung ist ein Triumph über die Unruhe der Welt.“Maria Lassnig, Künstlerin
Ausstellung: