Kulturschock Europa
Andere Länder, andere Sitten. Ein gebildeter Mensch aus einem anderen Kulturkreis besucht erstmals Europa. Wien, um genau zu sein. Was fällt ihm auf, wie erlebt er Österreichs Hauptstadt?
Showkat Shafi wuchs in einem kleinen Dorf in der Kaschmir-Region auf, ist in Delhi stationiert und versorgt Medien wie „New York Times“,
Al Jazeera und Reuters mit Berichten aus dem asiatischen Raum. Ständig pendelt er zwischen den Ländern Indien, Nepal, Bhutan, Bangladesch, Sri Lanka und Pakistan. Außerhalb dieser Länder, in einem „Erste-Welt-Land“, war er bis dato nie.
Kennengelernt habe ich Showkat Shafi beim wohl bestialischsten Fest der Welt, dem Gadhimai Festival in Nepal. Vor Hunderttausenden Zaungästen
wurden dort zu Ehren der Göttin der Macht einer halben Million Tiere mit Schwertern die Köpfe abgeschlagen. Showkat war dort, ich war dort, beide waren wir irritiert, wir verstanden uns sofort. Im
Anschluss an dieses Blutspektakel arbeiteten wir gemeinsam an einigen Reportagen für verschiedene internationale Medien. Irgendwann lud ich ihn nach Österreich ein. „Schau’s dir an und verrate mir deine Gedanken“, bat ich ihn.
Schon als Showkat vom Flieger aus unter ihm erstmals europäisches Land erblickte,
lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Unter ihm taten sich geometrisch angeordnete Flächen auf, wie mit dem Lineal gezogen. Grüne Maisfelder, gelbe Rapsfelder, Häuser mit eingezäunten Gärten. Das
gesamte Land gerastert. Die Natur gezähmt, alles unter Kontrolle, ausnahmslos.
Bei der anschließenden Fahrt vom Flughafen Richtung Quartier dann die nächsten Irritationen. Der gesamte Straßenverkehr erschien Showkat suspekt. So zurückhaltend, so gesittet, viel zu ruhig. Warum hupt
hier niemand und warum sind die schwächsten Straßenteilnehmer in Europa scheinbar die Stärksten? Viele Fußgänger schauen weder links noch rechts, bevor sie die Straße
überqueren, verlassen sich blind aufs Recht, als wäre es ein Naturgesetz wie die Schwerkraft. „Das ist ein verrücktes Verhalten, in Indien würde man so keinen Tag überleben“, sagte Showkat. Und nicht ein Auto ragt über die sauber gezogenen Parklinien
hinaus. Alles streng geordnet und organisiert. „So viel Ordnung macht mir Angst“, sagte der Mann, der ständig in Krisenregionen tätig ist und gewohnt ist zu improvisieren.
Ich musste an meine erste Indien-Reise zurückdenken, wie mich damals so ziemlich die gleichen Themen, nur halt von der anderen Seite her betrachtet, irritiert hatten. Das Chaos, die Unordnung, die Hektik, das allgegenwärtige Leid, die Unberechenbarkeit. Als Showkat dann aber auch noch einräumte, dass er große Sorge wegen Europas Essensgewohnheiten und deshalb vorsorglich jede Menge Medizin für sein Verdauungssystem mit dabei habe, wurden auch noch die blindesten Flecken meiner Wahrnehmung mit Licht erhellt. In meinem europäischen Selbstverständnis hatte die Möglichkeit, dass die westliche Küche für indische Mägen unverträglich sein könnte, bis dato einfach keinen Platz. In den folgenden Tagen präsentierte ich Showkat unter anderem die Sehenswürdigkeiten und Besonderheiten Wiens. Kohlmarkt, Spanische Reitschule, Albertina, Hofburg. Um uns Horden von Touristen aus
verschiedensten Ländern dieser Welt. Aber Showkat blieb verhalten, zumeist lediglich ein kurzer Blick, bloß so im Vorbeigehen. Kaisergruft, Prater, Schweizer Haus. „Was ist los, Showkat? Nicht beeindruckt?“, fragte ich. Er erklärte mir, dass er schon das Taj Mahal gesehen habe und eigentlich jede Menge Sehenswürdigkeiten und seitdem
wisse, dass er das Echte der Fassade vorziehe. „Dass in Wien die Straßen, Parks und Flüsse außerhalb der Tourismuszonen genauso sauber sind wie innerhalb dieser, ist für mich außergewöhnlicher als das Schloss Schönbrunn“, sagte er dann.
Aber primär interessieren Showkat Menschen. Menschen erregen seine Aufmerksamkeit immer. Junge Leute, die mit sportlichen Kleidern und Skistöcken durch die Gegend liefen, obwohl sie nicht gebrechlich zu sein schienen. Punks mit bunten Haaren, die in Indien scheinbar noch keinen Platz
gefunden haben. Die vielfältigen unterschiedlichen Physiognomien europäischer Menschen. Etwa auf Höhe
Burggarten lief uns dann ein Pfarrer mit schwarzem Talar und blauem Plastiksackerl
übern Weg. Der Wind wirbelte den Talar in alle Himmelsrichtungen und ließ aus der
bieder wirkenden Gestalt eine vom Wind durchtriebene Erscheinung werden. Klick. Klick. Showkat schoss Fotos von allen Seiten. Meine anschließenden Erklärungsversuche unterbrach Showkat sofort. „Ein Vertreter der Kirche, ich weiß“, sagte er. Und sein Motiv fürs Fotografieren sei in diesem
Fall bloß der Wind gewesen und nicht ein Mann in Kleidern, setzte er fort. Meine diesbezügliche Fehleinschätzung beschämte mich in diesem Moment ein wenig, denn
wenn ich ernsthaft angenommen habe, dass einen Menschen aus Indien Männer in
Kleidern überraschen könnten, dann zeugt das nicht unbedingt von weltmännischer Erfahrung und übergreifendem Kulturverständnis.
Aber der Himmel über unseren Köpfen hatte sich hoffentlich nicht meiner Einfältigkeit wegen wieder verdunkelt und die auf uns niederprasselnden schweren Regentropfen waren nicht als Strafe der indischen Götter zu deuten. Gebückt, um der Nässe wenig Angriffsfläche zu geben, hasteten wir die Mariahilfer Straße Richtung Westbahnhof entlang.
Am Straßenrand kniete ein Mensch mit schäbigen Kleidern am Körper. Seinen Kopf hatte er so weit nach vorn geneigt, dass die Stirn den Boden berührte. Regungslos verharrte der Mann in dieser Haltung. Wir passierten ihn ohne Reaktion, ohne ein Wort über ihn zu verlieren. Was sollte man dazu auch sagen? Alles war eindeutig. Ein Bettler, der auf ein paar Cent von Passanten hoffte. Was sonst? Jeder weiß das. Stunden später trafen wir wieder auf einen Menschen in gleicher Demutshaltung. Aber dieses Mal regnete es nicht, im Gegenteil, die Sonne lachte vom Himmel. Showkat blieb stehen, fixierte den Bettelnden für Sekunden, ging dann weiter. „Was war?“, fragte ich. Und seine Antwort
verwunderte. Showkat Shafi, der Mann, der regelmäßig Reportagen aus den ärmsten Ländern der Welt liefert, dachte ursprünglich, dass diese Menschen bloß Gott für den Regen danken würden. „Warum nicht?“,
rechtfertigte sich Showkat, „Menschen in Indien beten Kühe und was sonst noch alles an“, und fügte dann noch hinzu, dass es in einem der reichsten Länder der Welt wohl
naheliegender sei, auf dankbare und betende Menschen zu treffen als auf bettelnde.
Und so ging es dahin, ein weggeworfener, aus meiner Sicht kaputter Regenschirm, den Showkat als völlig funktionstauglich
bewertete, Flüchtlinge, die mir wie Fremdkörper und Showkat seltsam angepasst erschienen. Überraschungen und Fehlinterpretationen im Minutentakt. Irgendwann kamen wir zum Schluss, dass sich unsere anfängliche Annahme, dass im Webzeitalter ohnehin
schon jeder alles über andere Kulturen wisse und deshalb kaum noch Überraschungen möglich seien, als totale Fehleinschätzung erwiesen haben. Trotz Internet ist die Welt noch nicht zum Dorf geworden.