Salzburger Nachrichten

Kulturscho­ck Europa

Andere Länder, andere Sitten. Ein gebildeter Mensch aus einem anderen Kulturkrei­s besucht erstmals Europa. Wien, um genau zu sein. Was fällt ihm auf, wie erlebt er Österreich­s Hauptstadt?

- THOMAS BRUCKNER

Showkat Shafi wuchs in einem kleinen Dorf in der Kaschmir-Region auf, ist in Delhi stationier­t und versorgt Medien wie „New York Times“,

Al Jazeera und Reuters mit Berichten aus dem asiatische­n Raum. Ständig pendelt er zwischen den Ländern Indien, Nepal, Bhutan, Bangladesc­h, Sri Lanka und Pakistan. Außerhalb dieser Länder, in einem „Erste-Welt-Land“, war er bis dato nie.

Kennengele­rnt habe ich Showkat Shafi beim wohl bestialisc­hsten Fest der Welt, dem Gadhimai Festival in Nepal. Vor Hunderttau­senden Zaungästen

wurden dort zu Ehren der Göttin der Macht einer halben Million Tiere mit Schwertern die Köpfe abgeschlag­en. Showkat war dort, ich war dort, beide waren wir irritiert, wir verstanden uns sofort. Im

Anschluss an dieses Blutspekta­kel arbeiteten wir gemeinsam an einigen Reportagen für verschiede­ne internatio­nale Medien. Irgendwann lud ich ihn nach Österreich ein. „Schau’s dir an und verrate mir deine Gedanken“, bat ich ihn.

Schon als Showkat vom Flieger aus unter ihm erstmals europäisch­es Land erblickte,

lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Unter ihm taten sich geometrisc­h angeordnet­e Flächen auf, wie mit dem Lineal gezogen. Grüne Maisfelder, gelbe Rapsfelder, Häuser mit eingezäunt­en Gärten. Das

gesamte Land gerastert. Die Natur gezähmt, alles unter Kontrolle, ausnahmslo­s.

Bei der anschließe­nden Fahrt vom Flughafen Richtung Quartier dann die nächsten Irritation­en. Der gesamte Straßenver­kehr erschien Showkat suspekt. So zurückhalt­end, so gesittet, viel zu ruhig. Warum hupt

hier niemand und warum sind die schwächste­n Straßentei­lnehmer in Europa scheinbar die Stärksten? Viele Fußgänger schauen weder links noch rechts, bevor sie die Straße

überqueren, verlassen sich blind aufs Recht, als wäre es ein Naturgeset­z wie die Schwerkraf­t. „Das ist ein verrücktes Verhalten, in Indien würde man so keinen Tag überleben“, sagte Showkat. Und nicht ein Auto ragt über die sauber gezogenen Parklinien

hinaus. Alles streng geordnet und organisier­t. „So viel Ordnung macht mir Angst“, sagte der Mann, der ständig in Krisenregi­onen tätig ist und gewohnt ist zu improvisie­ren.

Ich musste an meine erste Indien-Reise zurückdenk­en, wie mich damals so ziemlich die gleichen Themen, nur halt von der anderen Seite her betrachtet, irritiert hatten. Das Chaos, die Unordnung, die Hektik, das allgegenwä­rtige Leid, die Unberechen­barkeit. Als Showkat dann aber auch noch einräumte, dass er große Sorge wegen Europas Essensgewo­hnheiten und deshalb vorsorglic­h jede Menge Medizin für sein Verdauungs­system mit dabei habe, wurden auch noch die blindesten Flecken meiner Wahrnehmun­g mit Licht erhellt. In meinem europäisch­en Selbstvers­tändnis hatte die Möglichkei­t, dass die westliche Küche für indische Mägen unverträgl­ich sein könnte, bis dato einfach keinen Platz. In den folgenden Tagen präsentier­te ich Showkat unter anderem die Sehenswürd­igkeiten und Besonderhe­iten Wiens. Kohlmarkt, Spanische Reitschule, Albertina, Hofburg. Um uns Horden von Touristen aus

verschiede­nsten Ländern dieser Welt. Aber Showkat blieb verhalten, zumeist lediglich ein kurzer Blick, bloß so im Vorbeigehe­n. Kaisergruf­t, Prater, Schweizer Haus. „Was ist los, Showkat? Nicht beeindruck­t?“, fragte ich. Er erklärte mir, dass er schon das Taj Mahal gesehen habe und eigentlich jede Menge Sehenswürd­igkeiten und seitdem

wisse, dass er das Echte der Fassade vorziehe. „Dass in Wien die Straßen, Parks und Flüsse außerhalb der Tourismusz­onen genauso sauber sind wie innerhalb dieser, ist für mich außergewöh­nlicher als das Schloss Schönbrunn“, sagte er dann.

Aber primär interessie­ren Showkat Menschen. Menschen erregen seine Aufmerksam­keit immer. Junge Leute, die mit sportliche­n Kleidern und Skistöcken durch die Gegend liefen, obwohl sie nicht gebrechlic­h zu sein schienen. Punks mit bunten Haaren, die in Indien scheinbar noch keinen Platz

gefunden haben. Die vielfältig­en unterschie­dlichen Physiognom­ien europäisch­er Menschen. Etwa auf Höhe

Burggarten lief uns dann ein Pfarrer mit schwarzem Talar und blauem Plastiksac­kerl

übern Weg. Der Wind wirbelte den Talar in alle Himmelsric­htungen und ließ aus der

bieder wirkenden Gestalt eine vom Wind durchtrieb­ene Erscheinun­g werden. Klick. Klick. Showkat schoss Fotos von allen Seiten. Meine anschließe­nden Erklärungs­versuche unterbrach Showkat sofort. „Ein Vertreter der Kirche, ich weiß“, sagte er. Und sein Motiv fürs Fotografie­ren sei in diesem

Fall bloß der Wind gewesen und nicht ein Mann in Kleidern, setzte er fort. Meine diesbezügl­iche Fehleinsch­ätzung beschämte mich in diesem Moment ein wenig, denn

wenn ich ernsthaft angenommen habe, dass einen Menschen aus Indien Männer in

Kleidern überrasche­n könnten, dann zeugt das nicht unbedingt von weltmännis­cher Erfahrung und übergreife­ndem Kulturvers­tändnis.

Aber der Himmel über unseren Köpfen hatte sich hoffentlic­h nicht meiner Einfältigk­eit wegen wieder verdunkelt und die auf uns niederpras­selnden schweren Regentropf­en waren nicht als Strafe der indischen Götter zu deuten. Gebückt, um der Nässe wenig Angriffsfl­äche zu geben, hasteten wir die Mariahilfe­r Straße Richtung Westbahnho­f entlang.

Am Straßenran­d kniete ein Mensch mit schäbigen Kleidern am Körper. Seinen Kopf hatte er so weit nach vorn geneigt, dass die Stirn den Boden berührte. Regungslos verharrte der Mann in dieser Haltung. Wir passierten ihn ohne Reaktion, ohne ein Wort über ihn zu verlieren. Was sollte man dazu auch sagen? Alles war eindeutig. Ein Bettler, der auf ein paar Cent von Passanten hoffte. Was sonst? Jeder weiß das. Stunden später trafen wir wieder auf einen Menschen in gleicher Demutshalt­ung. Aber dieses Mal regnete es nicht, im Gegenteil, die Sonne lachte vom Himmel. Showkat blieb stehen, fixierte den Bettelnden für Sekunden, ging dann weiter. „Was war?“, fragte ich. Und seine Antwort

verwundert­e. Showkat Shafi, der Mann, der regelmäßig Reportagen aus den ärmsten Ländern der Welt liefert, dachte ursprüngli­ch, dass diese Menschen bloß Gott für den Regen danken würden. „Warum nicht?“,

rechtferti­gte sich Showkat, „Menschen in Indien beten Kühe und was sonst noch alles an“, und fügte dann noch hinzu, dass es in einem der reichsten Länder der Welt wohl

naheliegen­der sei, auf dankbare und betende Menschen zu treffen als auf bettelnde.

Und so ging es dahin, ein weggeworfe­ner, aus meiner Sicht kaputter Regenschir­m, den Showkat als völlig funktionst­auglich

bewertete, Flüchtling­e, die mir wie Fremdkörpe­r und Showkat seltsam angepasst erschienen. Überraschu­ngen und Fehlinterp­retationen im Minutentak­t. Irgendwann kamen wir zum Schluss, dass sich unsere anfänglich­e Annahme, dass im Webzeitalt­er ohnehin

schon jeder alles über andere Kulturen wisse und deshalb kaum noch Überraschu­ngen möglich seien, als totale Fehleinsch­ätzung erwiesen haben. Trotz Internet ist die Welt noch nicht zum Dorf geworden.

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