Das große Spiel
Im Griff der Geografie. Der Ukraine-Krieg führt drastisch vor Augen, wie der Kampf um Einflusszonen zu Konflikten führen kann. Dasselbe könnte im Pazifik passieren, im Mittelmeer oder am Nil.
Russlands Vernichtungsfeldzug in der Ukraine zeigt für den US-Politikforscher John Mearsheimer, wie rücksichtslos große Mächte handeln können, wenn sie glauben, dass sie in der Klemme stecken. Mit der Perspektive, dass die Ukraine zu einem Bollwerk des Westens direkt an Russlands Grenze werden könnte, sei für die Machtelite in Moskau offenbar eine rote Linie ignoriert worden. Zuletzt habe ein von den USA angeführtes Seemanöver im Juli 2021 im Schwarzen Meer diese prekäre Perzeption befeuert.
Man sieht jedenfalls, dass im Kalkül der Strategen die Geografie ein
wichtiger Faktor ist. Indem der Kreml als Antwort auf eine mögliche Mitgliedschaft Georgiens
und der Ukraine in der NATO 2008 zuerst Abchasien sowie Südossetien und 2014 die Krim mit Gewalt kassierte, verhinderte er nach eigener Überzeugung, dass das Schwarze Meer zu einem NATOMeer würde und Russland so von den Meerengen zum Bosporus und damit zum Mittelmeer abgeschnitten werden könnte.
Tim Marshall stellt in seinem Buch „Die Macht der Geographie im 21.
Jahrhundert“dar, wie konfliktträchtig unsere multipolare Welt von heute ist. US-Amerika kann und mag nicht mehr wie bisher die Rolle des Weltpolizisten auf der internationalen Bühne spielen. Andere
Akteure wie China und Indien steigen auf und stecken ihre Einflusszonen ab. Es ist ein großes Spiel, in dem viele Kräfte zusammenstoßen können.
Geopolitisch ist der fünfte Kontinent in einer
heiklen Lage: Als westlich orientierte Demokratie befindet sich Australien in
unmittelbarer Nachbarschaft Chinas, der wirtschaftlich und militärisch mächtigsten Diktatur der
Welt. Australien liegt zwar mitten im Indischen und Pazifischen Ozean, dem
wirtschaftlichen Kraftzentrum des 21. Jahrhunderts. Aber wegen seiner
Abgelegenheit ist das Land auf einen extremen Fernhandel angewiesen. Und die USA, wichtigster
Verbündeter in Sachen Sicherheit, sind weit weg.
Australiens Außenpolitik wird damit zu einem Drahtseilakt: China ist der mit Abstand wichtigste Handelspartner des Landes. Das verlangt von Canberra einen konstruktiven Dialog mit Peking. Aber was die Regierenden in
Australien vor allem beunruhigt, ist nach Ansicht des politischen Analytikers Marshall die Vorstellung, „dass die Chinesen näher an sie heranrücken könnten“. Australien will Chinas Einfluss im südlichen Pazifik eindämmen und die internationalen Seewege offen halten. Deshalb verstärkt es die strategische Kooperation im Viererbündnis „Quad“(zusammen mit Japan, den USA und Indien). Deshalb hat es zuletzt die neue militärische Dreierallianz „Aukus“(mit den USA und Großbritannien) geschlossen. Kein Zweifel: In dieser
Weltregion entwickelt sich einer der global gefährlichsten Konfliktherde.
Zu einem geopolitischen Brennpunkt wird zusehends auch der östliche Teil des Mittelmeers. Als Landbrücke zwischen Europa und Asien hat die Türkei hier eine Machtposition. Für die Migranten, die nach Europa wollen, ist sie Eingangstor und Türhüter zugleich. In den 1990er-Jahren ist die Türkei schon zum Durchgangsland für Pipelines geworden, die Gas und Öl aus dem Nahen Osten und vom Kaspischen Meer nach Europa bringen. Für die NATO ist die Türkei von enormer strategischer Bedeutung, weil sie die Südostflanke der westlichen Allianz sichert. Der Auftrag der Türken ist es, die russische Flotte im Schwarzen Meer „einzusperren“.
Die Türkei möchte, wie einst das Osmanische Reich, Außenposten schaffen. Eine besondere Rolle spielt dabei die
Vision vom „Mavi Vatan“, dem „Blauen Vaterland“. So soll die Türkei möglichst alle Meere rund um sie beherrschen: das Schwarze Meer, die Ägäis und das östliche Mittelmeer. Das erklärt die aktuell aggressive Politik der Türkei gegenüber Zypern und Griechenland. Dabei geht es um neu entdeckte Gasfelder im Mittelmeer, aber auch um territoriale
Ansprüche Ankaras. Man will den Vertrag von Lausanne (1923) revidieren, durch den das Osmanische Reich Gebiete
abtreten musste – und zur Türkischen Republik wurde.
Am Horn von Afrika häuft Äthiopien geopolitischen Zündstoff an. Ein neuer, großer Staudamm am Blauen Nil soll dafür sorgen, dass das Land durch Wasserkraft den
eigenen Energiebedarf decken und zudem Strom in die Nachbarschaft exportieren kann. Weiter nördlich in Ägypten aber wächst wegen dieses Projekts die Angst vor einem „Wasserkrieg“. Ägypten ist ein typisches Beispiel dafür, wie
ein Land zum Gefangenen seiner Geografie wird. Es besteht zum größten Teil aus Wüste und kann gar nicht existieren ohne den Nil, seine Lebensader. Die Vorstellung, dass Äthiopien am Wasserhahn drehen könnte, ist für die Ägypter demzufolge ein Horror.
Marshall führt uns vor Augen, dass die Geografie tatsächlich ein entscheidender Faktor im Weltgeschehen ist. Doch
nebenbei zeigt seine Darstellung auch, dass andere
Dinge nicht minder wichtig sind. Auf das Handeln der
Politik kommt es ebenfalls an – und sie ist heute international vor allem davon
bestimmt, dass liberale Demokratien und autoritäre Mächte wie China und Russland einen ideologisch geprägten Systemwettbewerb austragen, so wie im Kalten Krieg zwischen Ost und West. Neue Technologien wie das Digitale verschärfen diese Konkurrenz dramatisch. Cyberattacken
richten sich gegen die Infrastruktur und gegen das
politische System des Gegners.
Obendrein hat auch der Faktor der Persönlichkeit großen Einfluss im globalen Kräftespiel. Präsident
Wladimir Putins Hass auf die Ukraine ist dafür jetzt das drastische Beispiel. Oder: Es macht einen Unterschied, ob China international auf leisen Sohlen
geht wie früher unter der Regie des Reformers Deng
Xiaoping – oder ob es außenpolitisch auftrumpft
wie heute unter dem Kommando von Xi Jinping.
Zu wenig beleuchtet der Autor in seinem Buch, dass eine globale Entwicklung
wie die Erderhitzung die ganze Mächtegeografie der
Welt auf den Kopf stellt. Staaten, die bisher ganz auf den Verkauf von Öl
und Gas setzten, geraten zwangsläufig in eine tiefe
Krise, wenn sie ihre Wirtschaft nicht rechtzeitig für die Zukunft der erneuerbaren Energien umbauen.
Grenzen stehen wieder im Mittelpunkt der Geopolitik. Das ist im Südchinesischen Meer der Fall,
wo Peking seine Einflusszone vorschieben will, und ebenso im Osten Europas,
wo Moskau auf Expansionskurs ist. Gegen Migrationsströme werden neuerlich Mauern hochgezogen. Die Vorstellung, dass mit der Globalisierung eine Welt ohne Grenzen entstehen könnte,
hat sich als Chimäre herausgestellt.
Zum Weiterlesen:
Tim Marshall: Die Macht der Geographie im 21. Jahrhundert. Dtv, München 2021.
Delphine Papin/Bruno Tertrais: Atlas der Unordnung. Wbg
Theiss, Darmstadt 2022.
Steffen Mau: Sortiermaschinen. Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert. C.H.-Beck-Verlag, München 2021.