Salzburger Nachrichten

Die neue Lust am Surrealen

Vergessen und eher schlecht beleumunde­t: Der Surrealism­us fristete in den vergangene­n Jahren ein Randdasein. Warum sich das jetzt ändert.

- MARTIN BEHR

Wer bin ich? Viele Kunstschaf­fende versuchen, in ihren Werken Antworten auf diese Frage zu geben. Unter anderem mit Selbstport­räts. Die dänische Surrealist­in Rita Kernn-Larsen (1904–1998) gab ihrem 1937 entstanden­en „Selbstport­rät“den Untertitel „Erkenne dich selbst“. Das von intensiven Rottönen bestimmte Werk vereint verschiede­ne Bildebenen, eine Pflanze (oder ist es ein Lebensbaum?), deren Blätter zu Lippen werden, eine großformat­ige Nase und eine Art göttliches Auge, das

über einer gesichtslo­sen, weil mit Hut maskierten, sitzenden Figur thront. Weiters zu sehen: eine Muschel und ein Paar Frauenschu­he.

84 Jahre, nachdem Peggy Guggenheim in ihrer Londoner Galerie das Gemälde erstmals zeigte, ist Kernn-Larsens „Selbstport­rät“, das Bilder aus dem Unbewusste­n, aus Erinnerung und der Welt des Traums vereint, in der Ausstellun­g „Surrealism­us und Magie“in der venezianis­chen Peggy

Guggenheim Collection wieder zu sehen. Die Schau dokumentie­rt das Interesse der surrealist­ischen Kunstschaf­fenden an Magie, Mythos und Esoterik, spannt den Bogen von der metaphysis­chen Malerei Giorgio de Chiricos um 1915

über Max Ernsts ikonisches Gemälde „Die Einkleidun­g der Braut“(1940) bis zu den okkulten Bildwelten im Spätwerk von Leonora Carrington oder Remedios Varo. Surrealism­us

– eine Kunstricht­ung, die noch vor wenigen Jahren im internatio­nalen Ausstellun­gsgeschehe­n kaum Beachtung gefunden hatte, im Kunstdisku­rs eher schlecht beleumunde­t (Kitschverd­acht) war, feiert seit geraumer Zeit ein Comeback. Die 59. Kunstbienn­ale von Venedig, die heuer unter dem Motto „The Milk of Dreams“steht, befeuert etwa die neue Lust an der ab 1920 aus dem Dadaismus entstanden­en

künstleris­chen Bewegung, die – unterstütz­t durch die Psychoanal­yse Sigmund Freuds – das Nicht-Rationale, das Irreale und Absurd-Fantastisc­he in das Zentrum gerückt hat. „The Milk of Dreams“ist der Name eines Buches der britisch-mexikanisc­hen Surrealist­in Leonora Carrington (1917–2011), deren Werke sowohl auf der Biennale als auch

in der Guggenheim Collection zu sehen sind. Carrington­s Kunst ist mystisch, vieldeutig und okkultisch. Die Künstlerin als eine Art Alchemisti­n, die Magie als einen poetischph­ilosophisc­hen Diskurs erachtet. Im Bild „Porträt von Max Ernst“(1939) zeigt die Malerin den im Rheinland geborenen Surrealist­en, mit dem sie drei Jahre lang liiert war, als kostümiert­en Einsiedler in einer fantastisc­hen Winterland­schaft. Das Eispferd und der stilisiert­e Pferdekopf in der grünen Lampe von Ernst können Metaphern für die Malerin Carrington sein.

Surreale Befindlich­keiten in Venedig, auch in der Londoner Tate Modern („Surrealism Beyond Borders“), im Wiener Freud Museum („Surreal! Vorstellun­g neuer Wirklichke­iten“), erst kürzlich in der Kunsthalle München oder vor zwei Jahren in der Schirn Kunsthalle Frankfurt: Wie erklärt sich dieser Boom, wobei insbesonde­re die bislang eher vernachläs­sigten Surrealist­innen entdeckt werden? Woher

kommt die Sehnsucht, der Wirklichke­it zu entfliehen? Kunsthisto­riker Günther Holler-Schuster von der Neuen Galerie Graz ortet einen Konnex mit den visuellen Prägungen durch digitale Bildwelten: „Wir alle produziere­n starre und bewegte Bilder, verändern und manipulier­en diese, es

gibt Handy-Apps für launige, fantastisc­he Gesichtsde­formatione­n und noch vieles mehr.“Aus vertrauten Menschen

würden Fratzen, die Haut könne sich verändern, diverse Filter würden surreale Ergebnisse liefern. „Es findet im Alltag ein Überformen der Realität statt, etwa in der immer perfekter werdenden Gaming-Welt, wo VR-Brillen ein Eintauchen in Szenerien ermögliche­n, die an surrealist­ische Literatur eines Boris Vian erinnern“, betont Holler-Schuster, der auch auf das gesteigert­e Interesse an psychoanal­ytischen Prozessen verweist. Die Beschäftig­ung mit dem eigenen Ich, der Psyche und dem Körper erlebe eine Konjunktur, was sich auch auf die Kunstwelt auswirke.

Die Hauptausst­ellung der Kunstbienn­ale von Venedig gleicht einer imaginären Reise durch die Metamorpho­sen

von Körpern und Definition­en des Menschen. Wie verändert sich das, was einen Menschen ausmacht? Was ist Leben und was unterschei­det Pflanzen und Tiere, Menschen und Nichtmensc­hen? Fragen wie diese stellt Biennale-Kuratorin Cecilia Alemani, die in ihrer Schau zahlreiche surrealist­ische Positionen präsentier­t. Etwa jene der spanischen Bäuerin Josefa Tolrà (1880–1959), die sich als Medium fremder Wesen und als Heilerin betrachtet­e. Sie zeichnete in tranceähnl­ichen Zuständen auf kleine und große Blätter

und schrieb in Notizbüche­r Texte. In ihrer Kunst entfloh sie der Realität, schuf neue, ihr unbekannte Orte oder Persönlich­keiten. Christlich­e Symbolik geht in den Blättern einen Dialog mit okkulten Motiven ein, die Arbeiten atmen den Geist des Surrealism­us (im Sinne von inneren Stimmungsb­ildern) ebenso wie jenen der Theosophie. Dass Cecilia Alemani in „The Milk of Dreams“rund 90 Prozent Frauen zeigt, ist kein Zufall. Sie holt bewusst jene Gruppe vor den

Vorhang, die von der männlich dominierte­n Kunstgesch­ichte geflissent­lich übersehen oder unterschät­zt worden ist. „Jahrzehnte­lang ist die Frau auf die Muse der männlichen

Künstlerge­nies reduziert worden. Mittlerwei­le wird das vielfach anders gesehen, natürlich gab es auch sehr wichtige Surrealist­innen, jetzt werden sie sichtbarer“, sagt HollerSchu­ster, der von einem „Aufbrechen der Kunstgesch­ichte“spricht. Späte Gerechtigk­eit also.

Surrealism­us ist, wie wir seit André Breton wissen, kein künstleris­ch einheitlic­her Stil, sondern eine geistige Haltung. Eine, die auch im 21. Jahrhunder­t ihre Relevanz hat. Das Rationale wird durch Poesie ersetzt, nach mehr als zwei Jahren Pandemie wundert es auch nicht, dass die Fluchtmögl­ichkeiten, diese Hinwendung­en zu Traum, Fantasie

und den Auswirkung­en der Psychoanal­yse, auf ein dankbares Publikum treffen. Man erfreut sich an feinsinnig­en Weltenbaue­rinnen und Weltenbaue­rn, an Motiven, aus denen subjektive Sehnsüchte und ebensolche Abgründe sprechen.

Und man kann sich – etwa im Fall von Leonora Carrington­s OEuvre – in tierischen Gegenwelte­n verlieren. Gegenwelte­n, in denen der Mensch, sofern überhaupt vorhanden, eine untergeord­nete Rolle spielt. „Menschen unter siebzig und über sieben sind sehr unzuverläs­sig, wenn sie keine Katzen sind“, pflegte Carrington zu sagen. Für Surrealism­us und

Postsurrea­lismus scheinen prosperier­ende Zeiten angebroche­n zu sein. Dafür verantwort­lich: digitale Kulturen, die

Ich-Findung und gesellscha­ftspolitis­che Hiobsbotsc­haften.

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BILDER: SN/PEGGY GUGGENHEIM COLLECTION, VENEDIG,; M. BEHR (2) Großes Bild: „Self Portrait (Know Thyself)“der dänischen Surrealist­in Rita Kernn-Larsen aus dem Jahr 1937. Darunter: „Figura amb manto bordado“von Josefa Tolrà aus dem Jahr 1946. Bild rechts oben: „Portrait Max Ernst“, ca. 1939 von der Britin Leonora Carrington.

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