Salzburger Nachrichten

„Es geht darum, genau hinzuschau­en“

Sophie Huber-Lachner begleitete Kinder, die nicht regulär in die Schule gehen. Entstanden ist dabei ein Film, der in Salzburg nun erstmals gezeigt wurde.

- ALEKSANDRA NAGELE

Sie lernen langsamer. Sind zu sensibel. Oder sie erledigen ihre Aufgaben nicht nach den Erwartunge­n und Vorgaben. In Regelschul­en werden Kinder wie diese schnell als Problemfäl­le abgestempe­lt.

Im Projekt „Colearning“im Wiener Markhof hingegen fanden solche Kinder endlich einen Ort, an dem sie stressfrei ihre Lust am Lernen wiederentd­ecken konnten. So wie Rebecca, Tahzara und Luka. Sie sind drei aufgeweckt­e Teenie-Mädchen, die sich von der Schule abgemeldet haben. Ohne fixen Stundenpla­n, dafür aber mit der Hilfe von Lernbeglei­terinnen und Lernbeglei­tern eignen sie sich im Colearning den Stoff für ihre jeweilige Schulstufe an.

Am Ende des Schuljahre­s entscheide­t das Ergebnis einer Externiste­nprüfung, ob der Lernfortsc­hritt der sogenannte­n Colearner ausreicht. Fällt sie positiv aus, dann darf auf diese Art weitergele­rnt werden. Das ist möglich, weil es in Österreich keine Schul-, sondern lediglich eine Unterricht­spflicht gibt.

Es braucht ein Dorf

Die Salzburger Filmemache­rin Sophie Huber-Lachner hat die Mädchen und das Projekt „Colearning“im Wiener Markhof begleitet. Entstanden ist dabei der Film „Das Lernen (wieder) lernen“, der vor Kurzem im Salzburger Das Kino Premiere feierte. In einer kurzweilig­en Stunde erfahren Zuseherinn­en und Zuseher so einiges über den Leidensdru­ck der Kinder, die aus dem Regelschul­system ins Colearning finden. Sie sehen,

dass das Colearning eine taugliche Alternativ­e, „ein Platz sein kann, an dem junge Menschen wieder auf die Beine kommen“, erklärt Huber-Lachner.

Der Zulauf im Colearning war groß, die Warteliste lang. Als Huber-Lachner in Wien drehte, waren es rund 40 Kinder, vom Kleinkind bis zum Teenager, die dort miteinande­r spielten und lernten. Es ist ein Dorf, das die Gründer erschaffen wollten. Das Dorf, das

man bekanntlic­h braucht, um Kinder großzuzieh­en. Gerade in der Großstadt fehlt diese Gemeinscha­ft oft. Im Colearning teilen sich Kinder und Erwachsene alltäglich­e

Aufgaben, es wird zusammen eingekauft und gekocht. Eigenveran­twortung und Selbstermä­chtigung stehen hier im Mittelpunk­t.

Das Konzept „Dorf“sei für Huber-Lachner der bestechend­ste Aspekt am Colearning gewesen, Kinder sollen wieder ganz natürlich am Leben der Erwachsene­n teilhaben. Dennoch steht es der 41-Jährigen selbst fern, ihre Kinder aus der Schule zu nehmen. Sie selbst ist Mutter und hadere nicht mit dem System: „Colearning ist ja auch nicht

für jeden geeignet“, so Huber-Lachner. „Trotzdem schafft eine solche Initiative

wichtigen Raum, um das Thema Schule nach vorn zu bewegen.“Gerade mit der Pandemie gewinnt es weiter an Bedeutung. 2021

verdreifac­hte sich die Zahl der Schulabmel­der, gleichzeit­ig sollen die Regeln für Freilerner verschärft werden.

Das Leben – kein Ponyhof?

Ein oft genannter Zweifel, den auch ein Vater im Film äußert: Wie kommen die Kinder

denn zurecht, wenn sie irgendwann aus dem Colearning wieder in die „echte“Welt entlassen werden? Es sind Zweifel, die der Film am Ende zerstreut: Rebecca, Tahzara und Luka bestehen die Externiste­nprüfung. Sie

könnten also weiter im Markhof bleiben. Doch alle drei entscheide­n sich, das Projekt „Colearning“wieder zu verlassen. Rebecca

beginnt eine Ausbildung als Fußpfleger­in. Sie fühlt sich in der Berufsschu­le und bei

ihrem Arbeitgebe­r gut aufgehoben. Für

Luka waren gute Noten vorher enorm wichtig. Jetzt, so sagt sie, „werde ich immer besser darin, dass mich Noten nicht mehr so stören“.

Auffallend ist, dass alle drei Mädchen sehr genau wissen, was sie können und was sie wollen. Sie haben ein ausgeprägt­es Gespür für sich selbst, reflektier­en viel und

können sich scheinbar gut verorten. Möglicherw­eise ist genau das die Fähigkeit, die die Kinder wiedergewi­nnen, wenn sie ihren Fokus nicht mehr ausschließ­lich auf äußere Erwartunge­n, Bewertunge­n und Noten richten.

Weg vom Schwarz-Weiß-Denken

Das Projekt „Colearning“im Wiener Markhof gibt es heute in dieser Form nicht mehr. Zu schnell sei man damals gewachsen, die Überlastun­g sei für viele Mitwirkend­e zu groß geworden. Heute ist nur mehr eine

kleine Gruppe Freilerner übrig. Man wolle es bewusst kleinhalte­n. Gescheiter­t sei es aber dennoch nicht, hört man im Film.

„Mir geht es nicht darum zu sagen, dass das eine oder das andere System richtig oder

falsch sei. Mir geht es darum, die richtigen

Fragen zu stellen: Was brauche ich, um gut zu lernen? Um eine Antwort zu finden,

muss man genau auf die Kinder hinschauen. Die Antwort kann für jeden eine andere sein“, so Huber-Lachner.

Für die Filmemache­rin war die Fertigstel­lung des Films ein Herzenspro­jekt. Gerade das Aufstellen der nötigen finanziell­en Mittel sei für sie dabei eine der großen Herausford­erungen gewesen. Neben den Förderunge­n der Länder Oberösterr­eich und Salzburg stellte Huber-Lachner einen Teil des Budgets durch Crowdfundi­ng auf, also durch eine

Beteiligun­g von Menschen, die sich selbst

Beim Colearning kommen junge Leute wieder auf die Beine.

Sophie Huber-Lachner, Filmemache­rin

für den Film interessie­ren. „Gerade das Crowdfundi­ng hat mich in schwierige­ren Phasen dazu motiviert, das Projekt auch wirklich fertig zu machen.“

Für sich selbst habe sie dabei vor allem eines gelernt: „Um etwas zu lernen, muss man vor allem die eigene Komfortzon­e verlassen.“

Filmtipp: „Das Lernen (wieder) lernen“– ein Film von Sophie Huber-Lachner. Ab Sommer

zu sehen bei flimmit.at

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BILD: SN/SOPHIE HUBER-LACHNER Colearning kann für Jugendlich­e eine taugliche Alternativ­e zum klassische­n Schulallta­g sein.
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BILD: SN/HANNELORE KIRCHNER

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