Menschen retten sich in ihre Vorstellung
Wirklichkeit, wie sie sich aus dem Blickwinkel einer Weltunkundigen präsentiert, beschert Ana Marwan den Bachmann-Preis.
KLAGENFURT. Es gab Jahre, da dachte man, wie um alles in der Welt soll man bei dieser Auswahl bloß einen
würdigen Bachmann-Preisträger finden. Diese Frage stellte sich diesmal, bei der 46. Ausgabe der Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt, nicht. Es gab gleich
mehrere ernsthafte Kandidaten. Selbst unter denen, die keinen der fünf Preise zugesprochen bekamen,
war noch die eine oder andere auffallende Erscheinung, der eine Auszeichnung gut angestanden wäre.
Für ihren Text „Wechselkröte“wurde die in Niederösterreich lebende Slowenin Ana Marwan – im Salzburger Otto-Müller-Verlag veröffentlichte sie den Roman „Der
Kreis des Weberknechts“– mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis (25.000 Euro) ausgezeichnet. Die Wechselkröte steht auf der Roten Liste der
bedrohten Tiere, und Sorge haben muss man auch um die Erzählerin, die sich aus der Gesellschaft freiwillig absentiert hat. Sie führt ein Leben in Gedanken, reimt sich ihre Welt mehr zusammen, als dass sie an Erfahrung interessiert wäre. In einer Schlüsselszene bemerkt die Erzählerin eine Wechselkröte in ihrem Garten, und umstandslos identifiziert sie sich mit ihr: „Ich empfinde eine Anwallung von Selbstliebe, weil ich die außergewöhnliche Schönheit gleich bemerkt habe, obwohl sie mit Gewöhnlichem
leicht zu verwechseln ist.“Im Tier erblickt sie ein Porträt ihrer selbst, zumindest so, wie sie sich sieht.
Aber der Text ist sowieso reine Vorstellungsprosa, Wirklichkeit, wie sie sich aus dem Blickwinkel einer Weltunkundigen präsentiert.
Mit Vorstellung beschäftigt sich auch der aus Rumänien stammende, in Berlin lebende Autor Alexandru Bulucz. Er hat aber unsere
Vorstellung im Blick, wenn er von einer Region „einige Landesgrenzen weiter östlich, von hier aus gesehen“schreibt. Dem Erzähler ist
bewusst, dass dem westlichen Menschen der Osten eine einzige große unheimliche Fläche ist. Also beginnt er mit unseren Vorstellungswelten aufzuräumen, wenn er ins Detail geht und unbekanntes Terrain mit der Lebensgeschichte eines Menschen auffüllt, der sowohl „hierzulande“wie „dortzulande“
nicht heimisch werden kann. Eine Redewendung, den Text umklammernd, warf in der Jury Fragen über deren Bedeutung auf: „Gott ist kein Eisenbahner.“Natürlich ist er keiner, sonst würde er unser Leben auf Schiene stellen und es würde ohne unser Zutun laufen. Bei Bulucz sehen wir, wie sich einer abstrampelt, weil nichts auf Schiene läuft. Dafür
bekam er den DeutschlandfunkPreis (12.500 Euro).
Der seltsamste Text stammte von Juan S. Guse aus Hannover, der den mit 10.000 Euro dotierten KelagPreis erhielt. Expeditionen begeben sich auf die Suche nach einer erst
kürzlich entdeckten Menschengruppe im Taunus, über deren Wesen und ihre Herkunft nichts bekannt ist, was die Grundlage für Spekulationen abgibt. Und dann macht ein Trupp tatsächlich die unheimlichen Unbekannten aus. Sie haben mitten im Wald den Frankfurter Flughafen nachgebaut und
eskortieren die Forscher in ein Flugzeug, „das einer 747 nachempfunden war“. Schon wieder Vorstellung und Wirklichkeit, Realität und Imagination.
Erfreulich, dass sich für Leon Engler aus Bayern („derzeit stellt er sich auf Cocktailpartys als Autor
und angehender Psychologe vor“) der 3sat-Preis (7500 Euro) ausgegangen ist. Seine Geschichte berichtet aus dem Herzen der Gegenwart. Ein junger Schauspieler mit mickrigen Aufträgen schlägt sich
gerade so durch, prekäre Verhältnisse, Zukunft ungewiss. Was ist die Folge? Er flüchtet sich ins Reich der
Vorstellung, wo er bedeutsamer aussteigt, als es sein momentanes
Leben hergibt. Ein bisschen tragische Figur, ein bisschen Schelm. Engler schreibt von bedrückenden Zuständen und entwickelt dennoch eine trotzige Leichtigkeit.
Von bedrückenden Zuständen versteht der Österreicher Elias Hirschl, dem der Publikumspreis in Höhe von 7000 Euro gewiss
war, auch eine Menge. Er begibt sich in die schöne, neue Arbeitswelt, wo junge Leute mit Startup-Unternehmen ihr Glück versuchen, einer belanglose Artikel als Massenware schreibt und Leute unter immer größeren
Druck gesetzt werden, um schnell und immer noch schneller bestellte Ware abzuliefern. Bei Hirschl ist nachzulesen, welche Folgen der Kult der Oberflächlichkeit zeitigt.
Die Jury zeigte sich am Ende gut eingespielt, konnte Gegensätze und unterschiedliche Temperamente aushalten und, was das Wichtigste ist: Wir reden über Literatur, weil das letzte
Wort nicht zu finden ist.