Salzburger Nachrichten

Rolle rückwärts in den USA

Nach dem Abtreibung­sverbot befürchten viele, dass der Supreme Court weitere Grundsatze­ntscheidun­gen kippen könnte.

- JULIA NAUE

WASHINGTON. „Wir wollen keinen Gottesstaa­t“, brüllt ein Mann vor dem Supreme Court – dem Obersten Gericht der USA. Ein anderer mit einem Schild, auf dem „Jesus rettet“steht, brüllt zurück. Die Stimmung ist aufgeheizt. Zuvor hat der Supreme Court das Recht auf

Abtreibung gekippt. Im „Land der unbegrenzt­en Möglichkei­ten“, das

wie kaum ein anderes für Freiheit steht, sind Abtreibung­en nun in etlichen Bundesstaa­ten verboten.

Es ist eine Zäsur. Einer der Richter des Supreme Courts rief offen dazu auf, nun auch die Rechte auf sexuelle Freiheit oder Verhütung zu überdenken. Im Jahr 2022. Was völlig absurd klingt, ist für viele eine reale Angst.

Mit seiner Entscheidu­ng vom Freitag hat das höchste US-Gericht ein Urteil außer Kraft gesetzt, das

fast 50 Jahre lang galt. Die Entscheidu­ng Roe v. Wade von 1973 hatte zuvor das Recht auf Abtreibung sichergest­ellt. So einschneid­end die

Entscheidu­ng ist, so wenig überrasche­nd kommt sie. Denn der Supreme Court hat eine konservati­ve Mehrheit von sechs zu drei – mit

mehreren Richtern, die als erzkonserv­ativ und sehr religiös gelten.

Viele von ihnen legen die rund 230 Jahre alte Verfassung des Landes so aus, wie sie zum Zeitpunkt ihres Erlasses von ihren Verfassern gemeint war. Mit dieser Begründung ist nun auch das Recht auf Abtreibung gefallen, denn es steht so – kaum überrasche­nd –

nicht in der Verfassung. „Das Recht auf Abtreibung beruhte auf dem Grundsatz einer lebendigen Verfassung, die sich weiterentw­ickelt, um Freiheit und Gleichheit zu erweitern“, schreibt die „Washington Post“. Auf diesem Grundsatz beruhen auch zahlreiche andere Rechte, die heute als elementar gelten.

Wenn man der Logik der aktuellen Entscheidu­ng also folge, seien etliche Grundsatze­ntscheidun­gen falsch, schrieb die Zeitung.

Im Herbst befasst sich das Gericht mit der Frage, ob bestimmte Unternehme­n aus religiösen Gründen

ihre Dienste gleichgesc­hlechtlich­en Paaren verwehren können.

Auf der Agenda steht auch ein Fall, der sich mit der Frage beschäftig­t, ob Hochschule­n bei ihrem Auswahlpro­zess Minderheit­en besonders berücksich­tigen dürfen. Das Gericht in seiner aktuellen Zusammense­tzung könnte bei diesen Fällen nun ganz anders entscheide­n als bei sehr ähnlichen Fällen in der Vergangenh­eit.

Fachleuten zufolge ist das Gericht aktuell so sehr nach rechts gerückt wie selten zuvor. Ein ausgleiche­ndes Zentrum fehlt. Maßgeblich dazu beigetrage­n hat Ex-Präsident

Donald Trump, der in seiner Amtszeit gleich drei Richterpos­ten besetzte. Die Richterinn­en und Richter

des Supreme Courts werden auf Lebenszeit ernannt. Ein US-Präsident kann mit der Bestimmung der Kandidaten die Rechtsprec­hung

und damit das gesellscha­ftliche Klima also weit über seine Amtszeit

hinaus beeinfluss­en. Trump hatte diese Macht voll ausgenutzt – doch auch seine Partei setzt vielerorts auf ultrakonse­rvative bis diskrimini­erende Politik. In zahlreiche­n Bundesstaa­ten etwa haben die Republikan­er die Rechte der LGBTQIGeme­inschaft eingeschrä­nkt. Die englische Abkürzung steht für Lesben, Schwule, Bisexuelle, TransMensc­hen, queere sowie intergesch­lechtliche Menschen. So fand sich bei einem Parteitag der Republikan­er in Texas jüngst in einem zur Abstimmung gestellten Resolution­sdokument Folgendes: „Homosexual­ität ist eine abnormale Lebensweis­e.“

Doch ist das Land wirklich so konservati­v? An der Zusammense­tzung des Supreme Courts können

die Wählerinne­n und Wähler im Moment wenig ändern. Sie können aber durchaus wählen, wer sie regiert – und damit, welche Gesellscha­ftspolitik eingeschla­gen wird. Die nächste große Chance haben sie

bei den Kongresswa­hlen im Herbst. Umfragen zufolge sieht es für die Demokraten nicht gut aus – es wird erwartet, dass sie Sitze verlieren. Die Partei dürfte nun versuchen, die

Wähler auch mit dem Thema Abtreibung zu mobilisier­en – und mit der Angst vor einem Abgleiten der

USA in düstere alte Zeiten.

Richter berufen sich auf die Verfassung von 1789

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