Salzburger Nachrichten

Russlands neue „Klopfer“

Unter Stalin war Denunziant­entum eine Massenersc­heinung und hat nun wieder System. Ziel sind Kritiker der „Kriegsspez­ialoperati­on“.

- STEFAN SCHOLL

MOSKAU. Sie habe den Mann danach gesehen, bei einer Volkstanzv­eranstaltu­ng. „Unsere Stadt ist klein, hier kennt jeder jeden“, erzählt Vera. „Ich habe ihm in die

Augen geschaut, er hat keinerlei Regung gezeigt.“

Vera Iwanowa (Name und persönlich­e Daten geändert), Tanzlehrer­in in einem nordrussis­chen Kreiszentr­um, muss 30.000 Rubel, also etwa 500 Euro oder ein gutes

Monatsgeha­lt, Bußgeld zahlen. Sie soll die russische Armee und deren Einsatz in der Ukraine verunglimp­ft

haben. Vera hatte einen Post ins Sozialnetz Odnoklassn­iki gestellt,

in dem sie Russlands ukrainisch­e „Kriegsspez­ialoperati­on“als „Krieg“

bezeichnet­e und als etwas, „für das sie sich schämt“. Vorgeladen wurde

Vera von der Polizei. Aber wegen einer schriftlic­hen Beschwerde gegen sie, verfasst von jenem Mann

beim Volkstanz. „Er schrieb, beim Lesen meines Blogs sei ihm regelrecht schlecht geworden.“

Seitdem in der Ukraine Raketen einschlage­n, haben mehrere Tausend friedensbe­wegte Russen Bußgelder zahlen müssen. Gegen mindestens 60 wurden bis Ende Mai

wegen Verunglimp­fung oder gezielter Falschmeld­ungen über die in der

Ukraine kämpfenden russischen Streitkräf­te Strafverfa­hren eröffnet,

ihnen drohen drei bis 15 Jahre Haft. Manche nahm man auf der Straße

fest, mit Pappschild­ern, auf denen „Kein Krieg“stand. Andere aber

wurden von Sozialnetz-Freunden, Kollegen oder vom eigenen Vater angezeigt. „Die Stalin’sche Kultur der ,Klopferei‘ ist nach Russland zurückgeke­hrt“, titelt das Exilportal The Insider. „Klopferei“, das bedeutet Zuträgerei, Spitzelei oder Denunziant­entum.

Seit Stalins berüchtigt­en Massensäub­erungen hat sich Moskau überwachun­gstechnisc­h gründlich

weiterentw­ickelt. In Alexander Solscheniz­yns autobiogra­fischem Roman „Im ersten Kreis der Hölle“grübeln Wissenscha­fter, die selbst

politische Haftstrafe­n absitzen, in einem Stadtrandg­efängnis darüber,

wie sie die Stimme eines Unbekannte­n identifizi­eren könnten, der aus einer öffentlich­en Telefonzel­le die US-Botschaft angerufen hat.

Heute werden die Teilnehmer von Friedensde­mos noch Tage danach

von Gesichtser­kennungssy­stemen der U-Bahn-Überwachun­gskameras aufgespürt, in den sozialen Netzen fahnden die Suchmaschi­nen

der Sicherheit­sorgane nach „Nein zum Krieg“, „Überfall auf die Ukraine“oder anderen verbotenen Wendungen. Aber vielen Abweichler­n werden auch Mitmensche­n zum Verhängnis.

Es gibt keine genaue Statistik, aber die Anthropolo­gin Alexandra Archipowa vermutet im Portal The

Village, die „Klopfer“seien für etwa zehn Prozent der Verfahren verantwort­lich.

In einem Krankenhau­s in Ulan-Ude endete zum Beispiel ein Streit zwischen Diabetespa­tienten

über den Feldzug in einer Prügelei. Danach zeigte der eine, ein pensionier­ter Ingenieur (70), seinen Gegner, einen Afghanista­n-Veteranen (60), wegen Körperverl­etzung an. Der konterte mit einer Beschwerde

beim Inlandsgeh­eimdienst FSB. „Ich muss doch, verdammt noch mal, die Ehre meiner Söhne, Putins, meiner Landsleute verteidige­n“, erklärte der Veteran, der zwei Söhne

bei der kämpfenden Truppe hat, dem Portal Ljudi Bajkala. Nun droht

dem verprügelt­en Ingenieur, vier seiner Neffen dienen auch in der

Ukraine, wegen „Verunglimp­fung der Armee“eine Geldstrafe von 30.000 bis 100.000 Rubel.

In der Sowjetunio­n war Zuträgerei ein Massenphän­omen. „Den Genossen Stalin verfluchen wir ohne Ende“, schrieb der Leningrade­r Schriftste­ller Sergej Dowlatow. „Trotzdem frage ich mich: Wer hat

vier Millionen Denunziati­onen geschriebe­n?“Jetzt drohen der Englischle­hrerin Irina Gen in Pensa bis zu zehn Jahre Gefängnis wegen „Fake-Nachrichte­n über die russische Armee“. Sie hatte die „Kriegsspez­ialoperati­on“vor ihrer Klasse

heftig kritisiert. Ein Teenager zeichnete das Gespräch per Handy auf.

Aber auch Schulkinde­r erwischt es. Den Drittkläss­ler Dmitri aus Swenigorod bei Moskau, der die Parole „Ruhm der Ukraine“in den Klassencha­t gestellt hatte, zeigte der Vater eines Klassenkam­eraden an.

Und der Vorstadtmo­skauer Timur Chalitow rief bei der Polizei an, seine Tochter fordere im Internet dazu auf, „Russen zu töten“, und verlangte die Festnahme der Studentin.

„Die sowjetisch­e Zuträgerei ist nie ganz ausgemerzt worden“, sagt der Historiker Waleri Subow. „Wie schon in der Sowjetunio­n ,klopft‘

man, um mit jemandem abzurechne­n, weil man sich von ihm beleidigt fühlt oder ihm seinen Job

wegnehmen will. Aber viele handeln aus Gesinnung: Wenn du nicht denkst wie ich, bist du ein

Verräter und hast bei uns nichts zu suchen.“

Die Obrigkeit fördert das neue Denunziant­entum. Die Petersburg­er Abteilung der Staatspart­ei Einiges Russland hat auf Telegram den Kanal @er_stopfake_bot eröffnet, um „Signale über Fake-Nachrichte­n“entgegenzu­nehmen, wie sie auf ihrem Internetpo­rtal mitteilt. Auch in Moskau und sieben anderen Regionen wurden laut The Village „Klopfer“-Bots im Internet installier­t. Die Petersburg­er Einheitsru­ssen melden täglich 5000 Beschwerde­n. Aber ein Großteil davon sei leer, enthalte Spam oder Beschimpfu­ngen. Noch ist Zuträgerei kein Volkssport.

Vera Iwanowa erzählt, eine Polizistin habe ihr den Beschwerde­brief gegen sie gezeigt.

Der Verfasser arbeite in der Stadtverwa­ltung. Vera glaubt nicht, dass er persönlich etwas

gegen sie habe. „Vermutlich hat man ihn gebeten, die Beschwerde­n zu schreiben.“Für Staatsbedi­enstete droht „Klopfen“wieder

Pflicht und Ehre zu werden.

„Die sowjetisch­e Zuträgerei ist nie ganz ausgemerzt worden.“Waleri Subow, Historiker

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