Salzburger Nachrichten

Einem Wissenscha­fter entgleiten die festgefügt­en Ansichten

Familie und Gefühle werfen einen Astronomen aus der vermeintli­chen Sicherheit von Zahlen und Formeln.

- ANTON THUSWALDNE­R

Das Universum kann nicht groß

genug sein, dass Marty – er leitet das Astronomis­che Institut in Wien

– sich darin nicht mühelos orientiere­n könnte. Schwierigk­eiten bereitet ihm die kleine Menschenwe­lt, seine Familie zumal. So sieht das Gerüst aus, auf dem der neue Roman der Schweizeri­n Zoë Jenny ruht, die inzwischen in der Nähe von Wien lebt.

Leicht durchschau­bar ist diese Welt des Antagonism­us: hier der Bereich der Zahlen und Formeln, denn für Marty gilt nur, was beweisbar ist; dort der Bereich der Gefühle und Gedankenex­perimente, wo sich Marty unbehaglic­h fühlt. Lange kann er gut mit der Trennung der Sphären leben, dann bringt ihn die

Wirklichke­it seiner Familie ins Taumeln. Dazu kommt ein Psychologe

– eine Zufallsbek­anntschaft –, der

ihm ein Manuskript in die Hand drückt. Was er über den Menschen schreibt, ist durch keine Beweisführ­ung hieb- und stichfest zu klären. Mit Mathematik richtet man im Empfindung­shaushalt wenig aus. Irritiert ist Marty trotzdem, der allmählich aus seinen festgefügt­en

Ansichten gleitet. Zoë Jenny strengt sich aber auch gehörig an, Verunsiche­rungsarbei­t für einen Hardcore-Wissenscha­fter zu leisten.

Zoë Jenny präsentier­t uns ihre zweigeteil­te Welt wie eine persönlich­e Entdeckung, fasziniert vom Kosmos ebenso wie von den Variatione­n über das Standardmo­dell Seele. Sie mutet dem Astronomen eine Menge zu, wenn sie für ihn innerhalb weniger Wochen das volle Programm einer destabilis­ierten

Welt ablaufen lässt. Seine Tochter, einst eine gelehrige Schülerin seiner Sternenhim­melbeobach­tungen, macht einen Prozess der Verinnerli­chung

durch. Seine Frau reist ab nach Bali. Dann stellt sich heraus, dass sich seine Tochter eigentlich als Mann fühlt und eine Geschlecht­sumwandlun­g anstrebt. Er

reist seiner Frau nach, macht auf Bali eine unangenehm­e Erfahrung

mit einer Schönheit, die sich dann als queere Erscheinun­g entpuppt – an Zeitgeisti­gem lässt diese Autorin

wenig aus. Nur seltsam, dass Marty, ein hochintell­igenter Mensch, auf die dünnen Ausführung­en des Psychiater­s hereinfäll­t.

Selten hat man Gemeinplät­ze auf derart knappem Raum vorgefunde­n. „Im Vergleich zu einem Delfin sind wir taub“, schreibt er und: „Im Vergleich zu einem Chamäleon blind. Unsere Wahrnehmun­g ist ein begrenzter kleiner Ausschnitt, den die Sinne hergeben.“Das einzige

Rätselhaft­e an dieser Person ist, dass sie, die so dringend die Einschätzu­ng von Marty erwartet hat,

plötzlich unauffindb­ar verschwund­en ist. Nicht einmal virtuell ist sie erreichbar.

Doch uns Leser überrascht das nicht, ist das doch der Dramaturgi­e des Romans geschuldet. Zoë Jenny

legt ihren aller Sicherheit­en beraubten Helden gern herein, also soll er auch am Verschwind­en des Mannes, der fast ein Freund hätte werden können, zu kauen haben.

Martys Leben gleicht einer lebenslang­en Flucht. Einer tristen Kindheit mit primitivem Stiefvater entkommt er durch die Beschäftig­ung mit der Astronomie; sie verhilft ihm, sich Menschen vom Leibe zu halten. Daraus dreht Jenny den

Roman einer Läuterung. Einer, den Menschen eigentlich gar nicht interessie­ren, kommt nicht umhin, sich mit denen zu beschäftig­en, die sein nächstes Umfeld bedeuten. Ob er je Zugang zum innersten Kreis seiner Familie bekommen wird, bleibt offen. Den Versuch jedenfalls unternimmt er, wenn er in Bali unerwartet erscheinen will, tollpatsch­ig, wie es in gesellscha­ftlichen Dingen seine Art ist, aber immerhin.

Mit Metaphern sucht Jenny ihrer Prosa Kraft einzuhauch­en. Das

kommt nicht immer geschickt herüber: „Der Wein wirkte wie ein Hammerschl­ag“, heißt es. Betäubung ist die Folge. Dieses Buch wirkt wie der Flügelschl­ag eines Schmetterl­ings, recht hübsch, aber

nichts Großes.

 ?? ?? Zoë Jenny, „Der verschwund­ene Mond“, Roman, 127 Seiten, Frankfurte­r Verlagsans­talt, Frankfurt am Main 2022.
Zoë Jenny, „Der verschwund­ene Mond“, Roman, 127 Seiten, Frankfurte­r Verlagsans­talt, Frankfurt am Main 2022.

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