Einem Wissenschafter entgleiten die festgefügten Ansichten
Familie und Gefühle werfen einen Astronomen aus der vermeintlichen Sicherheit von Zahlen und Formeln.
Das Universum kann nicht groß
genug sein, dass Marty – er leitet das Astronomische Institut in Wien
– sich darin nicht mühelos orientieren könnte. Schwierigkeiten bereitet ihm die kleine Menschenwelt, seine Familie zumal. So sieht das Gerüst aus, auf dem der neue Roman der Schweizerin Zoë Jenny ruht, die inzwischen in der Nähe von Wien lebt.
Leicht durchschaubar ist diese Welt des Antagonismus: hier der Bereich der Zahlen und Formeln, denn für Marty gilt nur, was beweisbar ist; dort der Bereich der Gefühle und Gedankenexperimente, wo sich Marty unbehaglich fühlt. Lange kann er gut mit der Trennung der Sphären leben, dann bringt ihn die
Wirklichkeit seiner Familie ins Taumeln. Dazu kommt ein Psychologe
– eine Zufallsbekanntschaft –, der
ihm ein Manuskript in die Hand drückt. Was er über den Menschen schreibt, ist durch keine Beweisführung hieb- und stichfest zu klären. Mit Mathematik richtet man im Empfindungshaushalt wenig aus. Irritiert ist Marty trotzdem, der allmählich aus seinen festgefügten
Ansichten gleitet. Zoë Jenny strengt sich aber auch gehörig an, Verunsicherungsarbeit für einen Hardcore-Wissenschafter zu leisten.
Zoë Jenny präsentiert uns ihre zweigeteilte Welt wie eine persönliche Entdeckung, fasziniert vom Kosmos ebenso wie von den Variationen über das Standardmodell Seele. Sie mutet dem Astronomen eine Menge zu, wenn sie für ihn innerhalb weniger Wochen das volle Programm einer destabilisierten
Welt ablaufen lässt. Seine Tochter, einst eine gelehrige Schülerin seiner Sternenhimmelbeobachtungen, macht einen Prozess der Verinnerlichung
durch. Seine Frau reist ab nach Bali. Dann stellt sich heraus, dass sich seine Tochter eigentlich als Mann fühlt und eine Geschlechtsumwandlung anstrebt. Er
reist seiner Frau nach, macht auf Bali eine unangenehme Erfahrung
mit einer Schönheit, die sich dann als queere Erscheinung entpuppt – an Zeitgeistigem lässt diese Autorin
wenig aus. Nur seltsam, dass Marty, ein hochintelligenter Mensch, auf die dünnen Ausführungen des Psychiaters hereinfällt.
Selten hat man Gemeinplätze auf derart knappem Raum vorgefunden. „Im Vergleich zu einem Delfin sind wir taub“, schreibt er und: „Im Vergleich zu einem Chamäleon blind. Unsere Wahrnehmung ist ein begrenzter kleiner Ausschnitt, den die Sinne hergeben.“Das einzige
Rätselhafte an dieser Person ist, dass sie, die so dringend die Einschätzung von Marty erwartet hat,
plötzlich unauffindbar verschwunden ist. Nicht einmal virtuell ist sie erreichbar.
Doch uns Leser überrascht das nicht, ist das doch der Dramaturgie des Romans geschuldet. Zoë Jenny
legt ihren aller Sicherheiten beraubten Helden gern herein, also soll er auch am Verschwinden des Mannes, der fast ein Freund hätte werden können, zu kauen haben.
Martys Leben gleicht einer lebenslangen Flucht. Einer tristen Kindheit mit primitivem Stiefvater entkommt er durch die Beschäftigung mit der Astronomie; sie verhilft ihm, sich Menschen vom Leibe zu halten. Daraus dreht Jenny den
Roman einer Läuterung. Einer, den Menschen eigentlich gar nicht interessieren, kommt nicht umhin, sich mit denen zu beschäftigen, die sein nächstes Umfeld bedeuten. Ob er je Zugang zum innersten Kreis seiner Familie bekommen wird, bleibt offen. Den Versuch jedenfalls unternimmt er, wenn er in Bali unerwartet erscheinen will, tollpatschig, wie es in gesellschaftlichen Dingen seine Art ist, aber immerhin.
Mit Metaphern sucht Jenny ihrer Prosa Kraft einzuhauchen. Das
kommt nicht immer geschickt herüber: „Der Wein wirkte wie ein Hammerschlag“, heißt es. Betäubung ist die Folge. Dieses Buch wirkt wie der Flügelschlag eines Schmetterlings, recht hübsch, aber
nichts Großes.