Norwegen wird in der Krise noch reicher
Seit Jahren treibt Norwegen den Ausbau erneuerbarer Energien voran und bereitet den Abschied von Öl und Gas vor. Doch der Krieg in der Ukraine hat alles geändert.
OSLO. „Die Krise hat für Norwegen
deutlich mehr Vor- als Nachteile“, sagt Dag Harald Claes, Professor am Institut für Politikwissenschaft der Universität Oslo. Zwar träfen steigende Preise und Zinsen und fallende Aktienkurse die Norweger genauso wie andere Europäer, doch die rekordhohen Einnahmen aus dem Gasgeschäft machten die negativen Effekte mehr als wett.
Vom Aktienboom während der Coronakrise im vergangenen Jahr
hatte der Pensionsfonds stark profitiert, zuletzt aber auch die einbrechenden Kurse an den Aktienmärkten zu spüren bekommen. Der Gasbedarf aus Europa macht die Norweger erneut zu Krisengewinnern – und kurbelt Investitionen in eine Industrie an, auf deren Ende sich die Skandinavier schon eingestellt hatten.
„Um Europa mehr Gas liefern zu können, muss Norwegen wieder in den Aus- und Neubau seiner Infrastruktur investieren“, sagt Politikwissenschafter Claes. Pläne dafür
hatte die Regierung schon während der Coronakrise angeschoben. Klimaschützer sehen die grüne Umstellung im Land dadurch in Gefahr: Die Regierung sende das falsche Signal, dass die Öl- und Gasgewinnung eine Zukunft habe.
Frode Pleym, Greenpeace-Chef in Norwegen, wirft seinem Land, das
Vorreiter beim grünen Wandel sein will, gleichzeitig aber vom Ölreichtum lebt, laut der Nachrichtenagentur NTB „Doppelmoral im Klimabereich“vor.
Mit diesem Zwiespalt leben die Skandinavier seit vielen Jahren. Mehr als die Hälfte des Energieverbrauchs in Norwegen wird heute bereits aus Erneuerbaren gedeckt. Unter anderem mit Investitionen in Offshore-Windkraft, Wasserstoff und CO2-Lagerung will Norwegen
vorangehen. Doch zugleich will der Pensionsfonds gefüllt werden.
Im März hatte Klimaminister Espen Barth Eide angekündigt, die enormen zusätzlichen Einnahmen aus dem Gasgeschäft sollten in grüne Technologien fließen. „Es ist schrecklich für die Welt, aber isoliert betrachtet ist es für die norwegische Wirtschaft eine Win-win-Situation“, sagte er damals der Zeitung „Dagens Naeringsliv“. Der stellvertretende
Grünen-Chef Arild Hermstad urteilte vor Kurzem über Eide, er sage immer die richtigen Dinge, seine Regierung tue aber die
falschen. „Der große Elefant im Raum ist die Öl- und Gaswirtschaft.
Die Regierung hat noch nie so viel Öl gepumpt, wie sie es jetzt tut“, sagte Hermstad der „Nettavisen“.
Plagen die Norweger Skrupel angesichts der Tatsache, dass sie von einem Krieg profitieren, der bereits Millionen Menschen aus ihrer Heimat vertrieben und viele Tausend Todesopfer gefordert hat? Zumindest diskutieren sie darüber, wie die
Extraeinnahmen aus dem Gasexport genutzt werden sollten. Manche fordern, das Geld solle den Opfern des Ukraine-Kriegs zugutekommen. Lieber denn als Krisengewinner sehen sich die Norweger aber als diejenigen, die die Energiesicherheit in Europa gewährleisten.
Ihr Land steht für bis zu 25 Prozent der Gasimporte der EU. Die Situation ist für Norwegen nicht neu. Schon während des Kalten Kriegs
hatte sich Norwegen in den 1970erJahren als politisch zuverlässiger Lieferant im Norden ins Spiel gebracht. „Schon damals hatten wir eine Art Trumpfkarte in der Hand
und haben höhere Preise verlangt“, sagt Experte Dag Harald Claes.
Es gibt aber doch eine Region in Norwegen, in der die negativen Folgen des russischen Kriegs in der Ukraine fast ausschließlich schmerzhaft zu spüren sind: im Norden des Landes, entlang der 200 Kilometer langen Grenze zu Russland, rund um die Kleinstadt Kirkenes, wo die wirtschaftlichen und
kulturellen Beziehungen in der Vergangenheit besonders eng waren. „Die Zusammenarbeit ist völlig gestoppt, Kunden und Lieferanten
verschwinden“, sagt Dag Harald Claes. „Und die Sorgen wachsen.“