Haben wir versagt, Herr Karas?
Krisen waren stets ein Nährboden für den Nationalismus. Hinter der Neutralität dürfen wir uns nicht verstecken.
Ein SN-Sommergespräch mit dem Ersten Vizepräsidenten des Europäischen Parlaments, Othmar Karas (ÖVP), in Nußdorf am Attersee über
Ich-AGs, Nationalismen, den Frieden, die Neutralität, die Unabhängigkeit und die Versäumnisse in der Klimapolitik.
SN: „Wir sind zu sehr dem Parteibuch verpflichtet, zu wenig den Menschen“: Diesen Satz nehmen Sie gerne in den Mund. Ist die Distanz untragbar?
Othmar Karas: Ich sehe keinen
Zwang, dass automatisch Partei und Mensch im Widerspruch stehen
müssen. Wir leben in der europäischen Demokratie in einer Parteiendemokratie, daher spielen Parteien als Instrument der Demokratie eine
wichtige Rolle. Es gab und gibt aber leider Personen in Parteien, die die Partei als Ich-AG und als Selbstzweck betrachten und betrachtet
haben. Aus diesem Verständnis heraus wurden der Staat und die Demokratie zu sehr auf Parteien reduziert. Das Ergebnis spiegelt der politische Vertrauensverlust nun wider.
SN: Politik ist das Streben nach dem Machtanteil, schreibt Max Weber, wie definieren Sie die Macht für sich?
Als Instrument. Je mehr Macht, umso mehr Einfluss, umso mehr Verantwortung. Macht und Machtmissbrauch liegen sehr eng beisammen. Für mich ist der entscheidende Punkt, dass wir Politikerinnen
und Politiker uns immer vor Augen führen müssen, dass wir Verantwortung für die Menschen übernehmen und für die Zukunft. Diese
Verantwortung setzt voraus: Ehrlichkeit, Transparenz und ein Bild einer Gesellschaft, in der jeder Teil des Ganzen ist und nicht das Ganze auf sich selbst reduziert. Die Komplexität jetzt ist gepaart mit Herausforderungen, die wir seit 1945 nicht
hatten. Diese Ehrlichkeit in den Krisen vermisse ich.
SN: Da die Krisen der Zeit keine nationalen Grenzen kennen?
All die Krisen, Chancen und Herausforderungen finden global statt
und gleichzeitig. Die Teuerung, die Inflation, der Krieg, die Pandemie, der Klimawandel, das Streben nach Unabhängigkeit, der Vertrauensverlust in die politischen Akteure. Alles ist miteinander verflochten. All diese Probleme kennen keine nationalen Grenzen. Es braucht den
Willen, aufeinander zuzugehen und gemeinsam an Lösungen zu arbeiten.
SN: Das, was Sie ansprechen, wäre ein Paradigmenwechsel, auf nationaler Ebene gibt es dieses Verständnis nicht.
Wir waren in diesem Zusammenhang schon weiter, als wir uns entschieden haben, der EU beizutreten. Als wir argumentieren mussten, warum die EU gut ist für die Menschen, für Österreich, in unserer geopolitischen Lage und im Lichte unserer Geschichte. Diese
guten Argumente haben wir stufenweise
abgebaut und verschwiegen, seit wir drinnen sind. Die nationale Karte ist nicht Teil der Lösung. Sie
hat die Schwächung jeder Gemeinschaft zur Folge. Ich habe das Gefühl, dass es trotz der Krisen wieder
mehr Politiker gibt, auch Staaten, die sagen, jetzt haben wir die Chance, den Nationalismus zu stärken, um
uns nicht ändern zu müssen, um uns mit der Schuldzuweisung von der Veränderung freizukaufen. Etwas Verantwortungsloseres, Kleinkarierteres und Geschichtsloseres habe ich in den Jahren nicht erlebt.
SN: Von welchen Ländern sprechen Sie konkret?
Denken wir an Orbán in Ungarn, die Rechtsbrüche in Polen, die Wahl in Frankreich oder an die Entwicklung
in Italien. Denken wir aber auch an Österreich, wenn Politiker die Sanktionen gegen Russland infrage stellen und fordern, diese zu beenden. Dadurch wird verniedlicht, dass die Ursache der Sanktionen der Angriffskrieg Putins, der Einmarsch in einen souveränen Nachbarstaat
war. Die Sanktionen sind nicht auf eine Ebene mit dem Krieg zu stellen.
Sie sind unsere friedliche, wirtschaftliche Antwort. Mit einem Unterschied: Ja, wir zahlen aktuell einen hohen ökonomischen Preis. Das ist mir mehr als bewusst. Aber der Preis, den wir als Österreicherinnen und Österreicher aktuell zahlen, ist ein Preis, den wir in Geld messen können. Der Preis, den die Ukrainerinnen und Ukrainer zahlen und in den letzten Monaten leider bereits gezahlt haben, der wird in Leben gemessen, die jeden Tag
verloren gehen. Vor Faschisten und Diktatoren in die Knie zu gehen
würde bedeuten, dass die Gewalt gegenüber der Freiheit und dem Frieden siegt.
Der Krieg, die Energiekrise und die Pandemie haben Einfluss auf die Menschen. Ein Nährboden für den Nationalismus?
SN:
Ja – aber es ist kein Grundgesetz. Es
war in der Geschichte immer so, dass soziale Spannungen und Umbrüche
bewusst missbraucht wurden für eigene parteipolitische, machtpolitische Zwecke. Aber das muss nicht so sein. Es kommt drauf an, ob sich genügend Menschen finden, die nicht mit den Problemen spielen, sondern die Ursachen der
Probleme lösen wollen. Wir haben es in der Hand, nicht nur von fossilen auf erneuerbare Energiequellen umzustellen. Wir haben es auch in der Hand, Energie einzusparen. Dort liegt das größte Potenzial! Solange die Energie billig war, war es uns wurscht, woher sie kommt. Zu einem sozialen Gemeinwesen gehören die Würde des Menschen, Vertrauen und Gerechtigkeit. Der Preis kann nicht das Zusammenleben bestimmen. Das Zusammenleben bestimmt auch die Verantwortung gegenüber den Nachbarn.
SN: Sie fordern ein sozialdemokratisches Europa.
Ich halte von parteipolitischen Punzierungen nichts. Ich fordere eine
demokratischere, effizientere, sozialere, grünere und entschlossenere Europäische Union. Europa ist nie die Frage Österreich oder EU. Europa ist immer die Frage: Macht
jeder, was er will – oder machen wir es gemeinsam?
Müssen wir die Neutralität infrage stellen, um unseren Nachbarn gegenüber fair zu handeln?
SN:
Nein, wir dürfen uns aber auch
nicht hinter ihr verstecken. Wir sollten der Bevölkerung ehrlich sagen, dass der Aufbau einer handlungsfähigen europäischen Außenund Verteidigungspolitik nicht im
Widerspruch zu unserer Bundesverfassung steht. Wir sollten keinen Konflikt konstruieren, den es nicht
gibt. Österreich gehört zu den aktivsten Mitgliedern der NATO-Partnerschaft für den Frieden und nimmt an internationalen Friedenseinsätzen teil. Die Bedrohung
unserer Freiheit, Sicherheit und Demokratie – Stichwort Cyberkriminalität und Terrorismus – bedarf
vielfältiger Anstrengungen. All diese Bedrohungen können nicht mit der Neutralität beantwortet werden, sondern nur mit einer kompatiblen Zusammenarbeit.
SN: Diffizil, bei der Inkompatibilität der Armeen.
Wir haben 27 Heere und diese sind großteils nicht kompatibel – da sie kein gemeinsames Beschaffungswesen haben, keine Normen,
keine gemeinsamen Pläne. Das soll sich jetzt durch den Strategischen Kompass der EU, den auch Österreich mitbeschlossen hat, ändern. Dieser würde die Zusammenarbeit der nationalen Heere verstärken
und wäre ein erster wichtiger Schritt zu einer gemeinsamen EUVerteidigungsunion.
Gehen wir zurück zum Klimawandel. Wir kennen die Folgen seit dem Bericht des Club of Rome vor 50 Jahren. Wenn uns die Kinder und Kindeskinder Totalversagen vorwerfen, haben sie recht?
SN:
Unsere Kinder können uns vorwerfen, dass wir zu spät zugehört, zu spät die Augen aufgemacht und zu spät tiefgreifend gehandelt haben.
Aber: Das, was jetzt passiert und was die Politik in Europa seit Jahren macht, ist, den Schalter umzulegen. Daher bin ich sehr dagegen, dass
wir den Krieg, die Inflation, die Teuerung und die Pandemie gegen die notwendigen Maßnahmen gegen den Klimawandel ausspielen. Sondern eigentlich ist das Paket eines, das uns nach vorn bringt und Zukunft sichert. Unabhängiger zu
werden heißt, nicht erpressbar zu sein. Wir dürfen aber nicht naiv sein. Alles das, was wir bisher beschlossen haben, reicht nicht aus.
Die vergangene Klimakonferenz hat deutlich gezeigt, dass wir am Weg zu drei Grad Erderwärmung sind. Wir müssen auf unter zwei Grad zurückkommen. Daher zeigt uns auch die Thematik, die wir jetzt haben, dass
wir diesen Prozess beschleunigen müssen. Daher würde ich nicht von
Versagen sprechen, aber Versäumnisse kann man uns unterstellen.
SN: Haben wir auch die richtigen politischen Akteure dafür?
Salopp gesagt: In jeder Diktatur nein und in jeder Demokratie sind wir selbst dafür verantwortlich.
Aber: Ich würde mir wieder einen verstärkten Wettbewerb von Menschen aus der Gesellschaft wünschen. Mir fehlt die Suche nach den Besten, es sind zu wenig Verantwortung und Weitblick vorhanden.