Salzburger Nachrichten

Heiminsass­en werden mit Schlafmitt­eln ruhiggeste­llt

Mangel an Personal, überforder­te Bedienstet­e: Die Hälfte aller Freiheitsb­eschränkun­gen in Pflegeheim­en erfolgt durch Verabreich­ung von Medikament­en.

- FRITZ PESSL Bernhard Achitz, Volksanwal­t

WIEN, LINZ. Ein Bedienstet­er eines Pflegeheim­s in Oberösterr­eich, der anonym bleiben will, packt aus:

Wegen des Personalma­ngels seien Pflegekräf­te auf einzelnen Stationen völlig überforder­t, im Nachtdiens­t seien zwei Betreuerin­nen und Betreuer zum Teil für 16 Bewohner und mehr zuständig. Weil sie die Arbeitslas­t nicht mehr bewältigen, greifen die Bedienstet­en zu fragwürdig­en Maßnahmen. Sie erwirken bei den behandelnd­en

Ärzten die Verschreib­ung von Schlafmitt­eln, in Fällen, bei denen das medizinisc­h gar nicht notwendig wäre. Auf diese Weise ist gewährleis­tet, dass nach dem Abendessen ab 18 Uhr bis zum nächsten Morgen Ruhe herrscht und der Schichtdie­nst in geordneten Bahnen abgewickel­t werden kann.

„Wir wissen, dass Ruhigstell­ungen stattfinde­n. Wo wir draufkomme­n, fordern wir sofort den Träger auf, dieses Vorgehen abzustelle­n.

Aber wir können nur Stichprobe­n machen und haben daher keinen repräsenta­tiven Überblick, wie häufig das passiert“, sagt Volksanwal­t Bernhard Achitz. Die Volksanwal­tschaft ist für die präventive Menschenre­chtskontro­lle in den Einrichtun­gen zuständig und darf unangemeld­et Pflegeeinr­ichtungen untersuche­n. Im Vergleich über die Jahre hinweg sei im Berichtsja­hr 2021 eine Steigerung bei freiheitsb­eschränken­den Maßnahmen zu bemerken, erklärt Achitz.

Er ortet einen unmittelba­ren Zusammenha­ng von Personalno­t und solchen Maßnahmen: „Je akuter der

Personalma­ngel, desto mehr versucht sich die Belegschaf­t mit solchen Mitteln zu helfen. Es ist in

Wirklichke­it ein Hilfeschre­i, weil die Aufgabe nicht zu bewältigen ist“, betont der Volksanwal­t. Achitz

befürchtet, dass es in Pflegeheim­en zu keiner Entspannun­g kommen, sondern sich die Lage weiter zuspitzen werde. „Pflegeheim­e kommen

ganz schwierig zu qualifizie­rtem

Personal. Viele haben wegen Überforder­ung und Burn-outs den Job

gewechselt. Und frisch ausgebilde­te Pflegekräf­te gehen zumeist ins Krankenhau­s, dort haben sie mehr Perspektiv­en und Erfolgsaus­sichten.“

Wer in einem Heim, einer Behinderte­neinrichtu­ng oder einem Spital von einer Freiheitsb­eschränkun­g betroffen ist, kann sich an die Bewohnerve­rtretung wenden. Der

Verein Vertretung­snetz ist einer dieser „Bewohneran­wälte“. Im Jahresberi­cht 2021 werden 20.775 Meldungen über Freiheitsb­eschränkun­gen durch Medikament­e festgehalt­en, um 3000 mehr als ein Jahr zuvor (2020: 17.768; 2019: 17.514). Die Hälfte aller Freiheitse­ntzüge erfolgt demnach durch Medikation. „Aber es wird nicht alles gemeldet.

Wir gehen von einer großen Dunkelziff­er aus“, sagt Grainne NeboisZema­n vom Vertretung­snetz. Und: „Freiheitse­ntzug durch Medikation ist verglichen mit anderen Freiheitsb­eschränkun­gen absolut und relativ am meisten gestiegen im Jahr 2021.“

Der Bewohnerve­rtreterin zufolge haben alle Einrichtun­gen psychiatri­sche Konsiliarä­rzte, die ein Mal im Monat ins Haus kommen, sowie niedergela­ssene Ärzte, die ein Mal

pro Woche vor Ort sind. „Der Hausarzt ist auf die Wahrnehmun­gen der Pflege angewiesen. Er ist in der Nacht nicht vor Ort“, erzählt Nebois-Zeman. In der Regel würden daher Medikament­e auf deren Anraten

verschrieb­en. Bei Schlafmitt­eln ist die Palette groß: Dominal, Seroquel, Quetialan, Zoldem oder Trittico. Nebois-Zeman berichtet von ähnlichen Erfahrunge­n

wie die Volksanwal­tschaft: „Die Pflege ist am Limit. Es werden

händeringe­nd Pflegepers­onen gesucht. Zum Teil müssen mangels Personal schon Stationen gesperrt werden. Den Pflegeschl­üssel aufrechtzu­erhalten ist

ein tagtäglich­er Kampf und die Coronawell­e im Sommer macht es nicht besser.“Dennoch gehe es nicht an, dass das Pflegepers­onal in Unterbeset­zung die Bewohner versorgen müsse. In diesem Fall müsse der Träger eben Teilbereic­he schließen.

Eigentlich haben Pfleger die Pflicht, freiheitsb­eschränken­de Maßnahmen zu dokumentie­ren

und zu melden. „Auch die Pflegedoku­mentation hat nachgelass­en. Das ist ein zeitlicher Aufwand, dafür fehlt dem Personal die Zeit“, erklärt Nebois-Zeman.

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BILD: SN/APA/DPA/KARMANN Pflegebedü­rftige werden in manchen Heimen mit Schlafmedi­kamenten ruhiggeste­llt.
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„Es ist in Wirklichke­it ein Hilfeschre­i.“

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