Heiminsassen werden mit Schlafmitteln ruhiggestellt
Mangel an Personal, überforderte Bedienstete: Die Hälfte aller Freiheitsbeschränkungen in Pflegeheimen erfolgt durch Verabreichung von Medikamenten.
WIEN, LINZ. Ein Bediensteter eines Pflegeheims in Oberösterreich, der anonym bleiben will, packt aus:
Wegen des Personalmangels seien Pflegekräfte auf einzelnen Stationen völlig überfordert, im Nachtdienst seien zwei Betreuerinnen und Betreuer zum Teil für 16 Bewohner und mehr zuständig. Weil sie die Arbeitslast nicht mehr bewältigen, greifen die Bediensteten zu fragwürdigen Maßnahmen. Sie erwirken bei den behandelnden
Ärzten die Verschreibung von Schlafmitteln, in Fällen, bei denen das medizinisch gar nicht notwendig wäre. Auf diese Weise ist gewährleistet, dass nach dem Abendessen ab 18 Uhr bis zum nächsten Morgen Ruhe herrscht und der Schichtdienst in geordneten Bahnen abgewickelt werden kann.
„Wir wissen, dass Ruhigstellungen stattfinden. Wo wir draufkommen, fordern wir sofort den Träger auf, dieses Vorgehen abzustellen.
Aber wir können nur Stichproben machen und haben daher keinen repräsentativen Überblick, wie häufig das passiert“, sagt Volksanwalt Bernhard Achitz. Die Volksanwaltschaft ist für die präventive Menschenrechtskontrolle in den Einrichtungen zuständig und darf unangemeldet Pflegeeinrichtungen untersuchen. Im Vergleich über die Jahre hinweg sei im Berichtsjahr 2021 eine Steigerung bei freiheitsbeschränkenden Maßnahmen zu bemerken, erklärt Achitz.
Er ortet einen unmittelbaren Zusammenhang von Personalnot und solchen Maßnahmen: „Je akuter der
Personalmangel, desto mehr versucht sich die Belegschaft mit solchen Mitteln zu helfen. Es ist in
Wirklichkeit ein Hilfeschrei, weil die Aufgabe nicht zu bewältigen ist“, betont der Volksanwalt. Achitz
befürchtet, dass es in Pflegeheimen zu keiner Entspannung kommen, sondern sich die Lage weiter zuspitzen werde. „Pflegeheime kommen
ganz schwierig zu qualifiziertem
Personal. Viele haben wegen Überforderung und Burn-outs den Job
gewechselt. Und frisch ausgebildete Pflegekräfte gehen zumeist ins Krankenhaus, dort haben sie mehr Perspektiven und Erfolgsaussichten.“
Wer in einem Heim, einer Behinderteneinrichtung oder einem Spital von einer Freiheitsbeschränkung betroffen ist, kann sich an die Bewohnervertretung wenden. Der
Verein Vertretungsnetz ist einer dieser „Bewohneranwälte“. Im Jahresbericht 2021 werden 20.775 Meldungen über Freiheitsbeschränkungen durch Medikamente festgehalten, um 3000 mehr als ein Jahr zuvor (2020: 17.768; 2019: 17.514). Die Hälfte aller Freiheitsentzüge erfolgt demnach durch Medikation. „Aber es wird nicht alles gemeldet.
Wir gehen von einer großen Dunkelziffer aus“, sagt Grainne NeboisZeman vom Vertretungsnetz. Und: „Freiheitsentzug durch Medikation ist verglichen mit anderen Freiheitsbeschränkungen absolut und relativ am meisten gestiegen im Jahr 2021.“
Der Bewohnervertreterin zufolge haben alle Einrichtungen psychiatrische Konsiliarärzte, die ein Mal im Monat ins Haus kommen, sowie niedergelassene Ärzte, die ein Mal
pro Woche vor Ort sind. „Der Hausarzt ist auf die Wahrnehmungen der Pflege angewiesen. Er ist in der Nacht nicht vor Ort“, erzählt Nebois-Zeman. In der Regel würden daher Medikamente auf deren Anraten
verschrieben. Bei Schlafmitteln ist die Palette groß: Dominal, Seroquel, Quetialan, Zoldem oder Trittico. Nebois-Zeman berichtet von ähnlichen Erfahrungen
wie die Volksanwaltschaft: „Die Pflege ist am Limit. Es werden
händeringend Pflegepersonen gesucht. Zum Teil müssen mangels Personal schon Stationen gesperrt werden. Den Pflegeschlüssel aufrechtzuerhalten ist
ein tagtäglicher Kampf und die Coronawelle im Sommer macht es nicht besser.“Dennoch gehe es nicht an, dass das Pflegepersonal in Unterbesetzung die Bewohner versorgen müsse. In diesem Fall müsse der Träger eben Teilbereiche schließen.
Eigentlich haben Pfleger die Pflicht, freiheitsbeschränkende Maßnahmen zu dokumentieren
und zu melden. „Auch die Pflegedokumentation hat nachgelassen. Das ist ein zeitlicher Aufwand, dafür fehlt dem Personal die Zeit“, erklärt Nebois-Zeman.