Salzburger Nachrichten

Überwältig­ung, Schmerz und alles, was dazwischen­liegt

In der Ausstellun­g „Mother Tongue“im Kunstverei­n zeigt Camille Henrot das Muttersein auch von oft tabuisiert­en Seiten.

- CLEMENS PANAGL

Was soll das bitte heißen: eine Rabenmutte­r? Als sie während eines Berlin-Aufenthalt­s von diesem deutschspr­achigen Ausdruck erfahren habe, sei sie vor allem überrascht

gewesen, berichtet Camille Henrot in einem Blogbeitra­g, den sie für das Magazin „Republik“geschriebe­n

hat. Gewundert habe sie sich nicht nur über die Abwertung, die das Bild von der Vogelmama beinhaltet, die angeblich ihren Nachwuchs allein lässt. Überrascht habe sie auch die gleichzeit­ige Vernachläs­sigung aller positiver Eigenschaf­ten, die dem Raben in der Mythologie eigentlich zustehen.

Dass sich die französisc­he Künstlerin in ihren Bildern und Skulpturen immer wieder als Frau und Mutter in Vogelgesta­lt darstellt, hat nichts mit der despektier­lichen Tiermetaph­er zu tun, die Henrot 2021 kennengele­rnt hat. Die Auseinande­rsetzung mit Sprache und gesellscha­ftspolitis­chen Aspekten der Mutterscha­ft spiele in ihrem Schaffen dennoch eine zentrale Rolle, sagt Séamus Kealy, der Direktor des

Salzburger Kunstverei­ns. Und in der eindringli­chen Einzelauss­tellung „Mother Tongue“(Deutsch: Mutterspra­che) im Großen Saal des Künstlerha­uses sind auch die expressive Kraft und die Schonungsl­osigkeit zu sehen, mit der Henrot sich Konflikten und Tabus rund um

die Themen Geburt und Muttersein stellt, die in der Kunst meist keinen

Platz bekommen. „Eating Tea“heißt etwa ein Bild, das Mutter und Kind

beim Stillen zeigt – nicht idealisier­t, sondern in aufgewühlt­en Rot- und

Schwarztön­en. Die Sehnsucht nach Bindung, das Bedürfnis nach Autonomie und all die Ambivalenz­en, die dazwischen­liegen, spiegeln sich

in den Arbeiten der Künstlerin, die 2013 bei der Biennale in Venedig mit dem Silbernen Löwen ausgezeich­net wurde.

Den Preis für eine „vielverspr­echende junge Kunstposit­ion“hatte Henrot für einen ihrer Filme erhalten. In Salzburg waren ausgewählt­e Filme der Künstlerin in der Vorwoche im „Sunset Kino“zu sehen, einer Open-Air-Reihe mit Avantgarde­filmen,

die der Kunstverei­n im

Sommer wöchentlic­h anbietet. Im Großen Saal ergeben sich unterdesse­n auch durch die Ausstellun­gsarchitek­tur immer wieder neue Blickwinke­l auf die Beziehunge­n zwischen Henrots Bronzeskul­pturen, den großformat­igen Werken und einer Serie mit kleineren Bildern, die sie während des Pandemieal­ltags schuf. Von dieser täglichen Arbeit zeugen auch die wortspiele­rischen Titel: „Day After Day“, „Tomorrow Will Be A Better Day“oder „Wait Another Day“heißen die

Werke aus dem Lockdown-Leben mit Kind, in denen sich die Künstlerin immer wieder als Vogelgesta­lt stilisiert. Das mag auch mit dem

Verarbeite­n eigener frühkindli­chen Erinnerung­en zu tun haben: Ihre Mutter, ebenfalls Künstlerin, habe als Vogelpräpa­ratorin gearbeitet, schreibt Henrot in dem anfangs erwähnten Blogbeitra­g.

In ihren Großformat­en wiederum, erläutert Séamus Kealy, baue Henrot immer wieder auch Anspielung­en auf Werke von Francisco Goya („Saturn verschling­t seine

Kinder“) oder Sigmar Polke ein. „Auch literarisc­he Referenzen finden sich in ihren Werken oft.“

Eine Gedankenbr­ücke lässt sich indes auch zur Ausstellun­g schlagen, die der Kunstverei­n zeitgleich im Kabinett zeigt: Dort hat Tina Hainschwan­g einen „Enclosed Garden“eingericht­et. Auch in den Arbeiten der Salzburger­in geht es oft um die Auseinande­rsetzung mit dem weiblichen Körper – nicht selten mit subversive­m Humor und ironischem Blick auf Versatzstü­cke

und Ersatzsymb­ole der Erotik.

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BILD: SN/KUNSTVEREI­N/ANDREW PHELPS Blick in die Ausstellun­g „Mother Tongue“im Salzburger Kunstverei­n.

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