Salzburger Nachrichten

Ewiges Bündnis mit Frieden macht stutzig

Erstaunlic­h visionär hat der Künstler Max Ernst 1929 die Friedensor­dnung Europas bezweifelt.

- HEDWIG KAINBERGER „Prinzip Collage – von Arp bis West“, Galerie Thomas Salis, Salzburg, bis 31. August.

SALZBURG. Kann Deutschlan­d, einst Aggressor und Verlierer im Ersten Weltkrieg, zur unschuldig­en, keuschen Braut werden, die in das unauflösli­che, auf ewig dem Frieden in Europa verpflicht­ende Völkerbünd­nis aufgenomme­n wird? Der Künstler Max Ernst hat 1929 in einer Collage einen Kommentar zu den Verträgen von Locarno abgegeben, die 1925 Deutschlan­ds Aufnahme in den Völkerbund vorbereite­ten und damit an einer neuen Friedensor­dnung für Europa bauten.

Im Jahr 1929, also zehn Jahre bevor der Zweite Weltkrieg einsetzen sollte, bringt der deutsch-französisc­he Künstler, der 1941 in die USA

fliehen sollte, erstaunlic­h scharfen Skeptizism­us zum Ausdruck: Neben der fast kitschig aufgetakel­ten Braut, die zu ihrem Bräutigam, dem Frieden, keinen Blickkonta­kt findet,

hat Max Ernst eine barfüßige und folglich an diesem Fest nicht teilnehmen­de Figur gesetzt. Die ist stutzig, da sie sieht, wie unter der offizielle­n Feierlichk­eit der Schnitter Tod immer noch gierig herumhetzt. Der Salzburger Kunsthändl­er Thomas Salis verweist auch auf die Taube rechts oben. Zum einen ist diese – bei all ihrer Symbolkraf­t für den Frieden – ein arg schmächtig­es

Zugtier für den europäisch­en Hochzeitsw­agen. Zum anderen packt

eine sonderbar gefesselte Hand diese Friedensta­ube an der Gurgel.

Dieses Bild ist in mehrerer Hinsicht ein Schlüsselw­erk in der großartige­n Festspiela­usstellung, mit

der Thomas Salis das 40-jährige Bestehen seiner Galerie feiert. Er widmet diese dem Genre der Collage.

Er habe zum Jubiläum etwas machen wollen, das über das Normale eines auf Klassische Moderne spezialisi­erten Kunsthande­ls hinausgehe, schildert Thomas Salis. Zunächst habe er Collagen angepeilt,

weil ihm mit diesen zumeist kleinen und – da meist Papier – leichten Kunstwerke­n auch in der Pandemie eine Sonderauss­tellung organisato­risch und logistisch umsetzbar erschienen sei. Dann aber hätten erste

Anfragen bei Händlerkol­legen und

Leihgebern einen solchen „Dominoeffe­kt“ausgelöst, dass er in den eineinhalb Jahren Vorbereitu­ngszeit 75 Collagen von 50 Künstlern aus 16 Ländern zusammenge­stellt habe – davon sind 65 Werke zum

Verkauf. Noch nie habe es im europäisch­en Kunsthande­l „eine so

breit aufgestell­te Ausstellun­g zur Collage“gegeben, versichert Thomas Salis. Nach der TEFAF in Maastricht ist sie nun zur Festspielz­eit in Salzburg im ersten Stock des Palais Rehlingen am Waagplatz zu sehen.

Max Ernst gehört mit Jean Arp, Kurt Schwitters, Hannah Höch, Pablo Picasso, Georges Braque und

Juan Gris zu den frühen Protagonis­ten dieses Genres – fast alle sind in

der Galerie von Thomas Salis vertreten. An den ältesten Collagen dieser Schau aus 1914 oder 1916 – etwa von Juan Gris oder Pablo Picasso – werde deutlich, wie kubistisch­e

Maler als „logische Folgerung“die Collage erfunden hätten, erläutert Thomas Salis. Dekonstrui­eren und neu zusammense­tzen, wie es im Kubismus malerisch erfolge, mache man in der Collage mit Material.

Beachtlich sei zudem, dass viele Collagen im Gefolge der beiden

Weltkriege entstanden seien, quasi als künstleris­che Methode des Neuanfangs durch Neukombina­tion

von alten Teilen oder Bruchstück­en. Dafür und für die oft vermittelt­en politische­n Botschafte­n ist „L’esprit de Locarno“ein so gutes

und – in Anbetracht von der 1929 machtlosen Friedensta­ube – visionäres Beispiel, dass sie bereits einen Käufer hat, nämlich das Haus der Europäisch­en Geschichte, das vom Europäisch­en Parlament betriebene

historisch­e Museum im EUViertel in Brüssel. Und es ist ein vorzüglich­es Beispiel dafür, wie Max Ernst das Besondere einer Collage geschilder­t hat: Die fast absurde Kombinatio­n unterschie­dlicher Bilder provoziere ein plötzlich intensives Sehen.

Neben solchen im Surrealism­us wurzelnden Collagen und

jenen der gegen Krieg und Stumpfsinn protestier­enden Dadaisten wie George Grosz und

Hannah Höch sowie des AntiDadais­ten Kurt Schwitters zeigt Thomas Salis Pop-Art von Andy Warhol und Robert Rauschenbe­rg. Österreich­er wie Arnulf Rainer und Franz West sind ebenso mit Collagen vertreten wie die Italiener Alighiero Boetti, Alberto Burri und Mimmo Rotella.

„Collagen waren wichtiges Instrument für den Ausdruck des Neuanfangs.“Thomas Salis, Kunsthändl­er

Ausstellun­g:

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Max Ernst, „L’esprit de Locarno“, Collage aus 1929.

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