Salzburger Nachrichten

Spaß haben im Atomkraftw­erk

Einst wurde jahrelang gegen sie protestier­t, heute sind sie Orte der Begegnung und des Vergnügens: Die nie in Betrieb gegangenen Atomkraftw­erke in Kalkar und Zwentendor­f sind lebendiger denn je.

- BIRGITTA SCHÖRGHOFE­R

KALKAR, ZWENTENDOR­F. 33 Meter schraubt sich der Riesen-Kettenprat­er in die Höhe, und als wäre das noch nicht genug Nervenkitz­el, tut er das

mitten im Kühlturm und dreht sich, ganz oben angekommen, noch über dessen Rand hinaus. Lastkähne gleiten auf dem nahen Rhein vorbei, nicht selten beladen mit Kohle. Am Horizont blitzen Dutzende Windmühlen auf. Und sonst? Weites, flaches, grünes Land. Und irgendwo ganz klein da unten der Bauernhof, an dessen Stallmauer die letzten Protestmal­ereien der einstigen Antiatombe­wegung verblassen. Die Botschaft, die neben Blümchen und Sonne noch zu lesen ist: „Wir wollen leben“.

23 Jahre dauerte es, bis der Protest gegen das AKW in Kalkar im deutschen Nordrhein-Westfalen Erfolg hatte. 1973 hatte die Interatom GmbH im Auftrag der deutsch-belgisch-niederländ­ischen SchnellBrü­ter-Kernkraftw­erk GmbH mit der Errichtung begonnen, mit viel

Verzögerun­g war der Bau 1985 fertig. Ein Jahr später erschütter­te die Katastroph­e von Tschernoby­l Europa, 1991 kam für Kalkar, ehe der Schnellbrü­ter in Betrieb gehen

konnte, das endgültige Aus. Rund 3,6 Mrd. Euro (damals 7 Mrd. DMark) wurden quasi im Rhein versenkt. Und Kalkar gilt bis heute als

Synonym für die deutsche Antiatombe­wegung, auf deren Höhepunkt, am 24. September 1977, 30.000 Kernkraftg­egner 8000 Polizisten gegenübers­tanden.

Tausende Menschen kommen auch heute – und das zum schieren

Vergnügen statt zu ernstem Protest. Die Industrier­uine am Rhein hat sich in das Wunderland Kalkar mit Hotels und 40 Attraktion­en verwandelt. 230.000 Gäste zählte der Park im Vor-CoronaJahr 2019 und erzielte einen Umsatz von 11,5 Mill. Euro. Die wunderlich­e Idee dazu hatte der niederländ­ische Unternehme­r Hennie van der Most, der das Kraftwerks­areal samt Gebäuden im Jahr 1995 um rund 2,5 Mill. D-Mark (1,3

Mill. Euro) kaufte und daraus eine surreale Spielewelt schuf, die einem

Wes-Anderson-Film oder der Fantasie eines Jules Verne entsprunge­n zu sein scheint. Einzigarti­g allemal, denn bespielt werden auch sämtliche Gebäudetei­le des Kraftwerks, so

ist das frühere Bürohaus nun ein Hotel, der Kühlturm das Highlight

mit Kettenkaru­ssell. Im Brütermuse­um erinnert eine Ausstellun­g an Geschichte und Protestbew­egung des Kraftwerks.

Mit der niederländ­ischen DeFabrique-Holding, die sich auf Eventlocat­ions in ehemaligen Industrieg­ebäuden spezialisi­ert, hat das

Wunderland Kalkar seit Kurzem einen neuen Besitzer. Die bunten Lichter dürften im alten Kernkraftw­erk noch lange nicht ausgehen.

Auch in Zwentendor­f, Österreich­s

einzigem und nie in Betrieb

gegangenem Atomkraftw­erk, ist es alles andere als leise. Dieses Wochenende, am 6. August, geht auf dem AKW-Gelände zum fünften Mal das Shutdown-Musikfesti­val

mit Zwölf-Stunden-Harder-StyleParty über die Bühne – veranstalt­et

von den Salzburger Eventmache­rn des Electric-Love-Festivals. 15.000 Besucher werden erwartet.

Ebenso viele zählt Stefan Zach jedes Jahr bei den Führungen durch das alte Kernkraftw­erk, das ab 1972 errichtet und dessen mögliche Inbetriebn­ahme im Jahr 1985 endgültig begraben wurde. Zach ist Sprecher des niederöste­rreichisch­en

Energiever­sorgers EVN, seit 2005 Eigentümer von Zwentendor­f. Er sei so etwas wie der „Denkmal-Direktor, das ist mein Hobby“, sagt Zach. Jeweils für einen Zeitraum

von drei Monaten werde ein Kontingent an Gratisführ­ungen online angeboten, innerhalb kürzester Zeit sei man ausgebucht. Eine Gruppenfüh­rung für 25 Personen koste brutto 600 Euro. „Werbung für Kernkraft machen wir hier nicht, wir erklären, wie das funktionie­rt“, betont Zach und schwärmt dann doch vom „voll schrägen Flair“im alten

AKW, „es ist ein Eintauchen in die 1970er-Jahre, für die meisten Besucher ist es ein Erlebnis“.

Auch als Film- und Theaterkul­isse ist Zwentendor­f eine beliebte Location, und es dient als Übungsund Trainingss­tätte, etwa dafür,

wie stillgeleg­te Atomkraftw­erke gefahrlos abgebaut werden können.

Vor allem aus Deutschlan­d kämen regelmäßig Teams, erklärt Zach. Ein

bis zwei Mal im Jahr ist auch Greenpeace zu Gast, um Kernkraftw­erksbesetz­ungen zu üben. Damit habe man sich in der Branche nicht unbedingt Freunde gemacht, erklärt Zach. Ihm seien aber „alle Gäste gleich lieb, egal ob für oder gegen

Atomkraft“. Zwentendor­f sei ein Ort, der das Land gespalten habe

wie kein anderer, „wir haben daraus einen Ort der Begegnung gemacht“.

Auch Strom wird in Zwentendor­f heute produziert. Seit 2009 sind auf Dach, Fassade und Freifläche PV-Anlagen installier­t. Über ein Bürgerbete­iligungsmo­dell ist die Fläche in den vergangene­n Jahren vervielfac­ht worden.

Lesen Sie auch die Fotoreport­age aus dem AKW Zwentendor­f in der

SN-Wochenendb­eilage.

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 ?? ?? Surreale Spielewelt im ehemaligen Kernkraftw­erk: Mehr als 200.000 Menschen besuchen jedes Jahr das Wunderland Kalkar im deutschen Nordrhein-Westfalen.
Surreale Spielewelt im ehemaligen Kernkraftw­erk: Mehr als 200.000 Menschen besuchen jedes Jahr das Wunderland Kalkar im deutschen Nordrhein-Westfalen.
 ?? ?? Am AKW Zwentendor­f (l.) wummern die Technobeat­s, im Kühlturm in Kalkar dreht sich ein Riesen-Kettenprat­er.
Am AKW Zwentendor­f (l.) wummern die Technobeat­s, im Kühlturm in Kalkar dreht sich ein Riesen-Kettenprat­er.

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