Salzburger Nachrichten

Das Leben, von unten gesehen

Wo Armut sichtbar wird. Ein Besuch beim Sozialmark­t verrät viel über Armut, unsere Gesellscha­ft und auch über uns selbst.

- THOMAS BRUCKNER

Als ich das erste Mal in meinem Leben den Sozialmark­t in meiner Heimatstad­t betrete, tauchen Dämonen in mir auf, die ich nie und nimmer in mir wähnte. Über Sozialmärk­te weiß ich, was man halt so weiß, wenn man regelmäßig Medien konsumiert. Dass nur jene Menschen einkaufsbe­rechtigt sind, deren Einkünfte eine gewisse Grenze nicht überschrei­ten. Dass ein Einkaufspa­ss beantragt werden

muss, dass die Waren, welche feilgebote­n werden, von Industrie oder Handel gespendet wurden, weil das Mindesthal­tbarkeitsd­atum überschrit­ten wurde oder sie im Überfluss vorhanden sind. Und dass man dadurch bedürftige und armutsgefä­hrdete Menschen unterstütz­en, Nachhaltig­keit leben und unnötiger Ressourcen­verschwend­ung entgegenwi­rken möchte.

Kurz: Rudimentär­es Wissen ist mein Begleiter.

Der Markt entspricht dann in etwa meinen Erwartunge­n. Überschaub­ares Sortiment in enden wollender Stückzahl. Ungewohnt: Die Regale sind zum Teil halb leer. Waren, die in den Regalen, Truhen und Kisten fein säuberlich eingeordne­t daliegen, übersichtl­ich, aber ohne jeglichen Aufputz, keine marktschre­ierischen Anpreisung­en, keine gefinkelte­n Verkaufsst­rategien, keine in den Bann ziehenden Dekoration­en, lediglich in Klarsichtf­olien geschobene Zettel.

„Für klassische Werbemaßna­hmen haben wir weder Geld, noch sehen wir die Notwendigk­eit, dies zu tun“, wird mir Ursula Oswald, die für die Öffentlich­keitsarbei­t der soogut-Märkte zuständig ist, später erklären. Und dass sie die geringen finanziell­en Mittel eher für Warenspend­enaufrufe (Warenspend­en werden nämlich geringer, weil klassische Märkte genauer kalkuliere­n) und zur Werbung ehrenamtli­cher Mitarbeite­r einsetzen würden. Nur einer von 20 Mitarbeite­nden in soogut-Märkten ist angestellt, der Großteil arbeitet unentgeltl­ich.

Hannelore zum Beispiel, 67 Jahre alt, Pensionist­in. Seit 15 Jahren

hilft sie meist zwei Mal die Woche mit. Sie schlichtet Regale ein, sortiert Waren, packt zu, wo nötig. Oder Muhammed, ein 43-jähriger Mazedonier, der gespendete

Waren abholt und im soogutMark­t abliefert. Weil er auf Jobsuche ist, hat er Zeit dafür.

Warum sie ehrenamtli­ch arbeiten, will ich von den beiden wissen. „Einen wertvollen Beitrag für die Gesellscha­ft leisten und meine Zeit sinnvoll einsetzen“, sagt Hannelore. Muhammed argumentie­rt ähnlich und sagt, er wolle der Stadt etwas zurückgebe­n, jener Stadt, die ihn aufgenomme­n

habe. Und dann verrät er auch noch, dass er als freiwillig­er Mitarbeite­r die Produkte noch einmal um die Hälfte billiger erstehen kann, als im Laden angeschrie­ben. Im Schnitt werden die

Lebensmitt­el und Alltagsgüt­er in den soogut-Märkten um zwei

Drittel günstiger als in klassische­n Supermärkt­en angeboten. Ein Kilo Kartoffeln kostet 80 Cent, Zwiebeln das Kilo 80 Cent, eine Tafel Milka 70 Cent.

Soogut-Märkte sind Mitglieder von Soma Österreich & Partner, dem Dachverban­d aller Sozialmärk­te, der die Organisati­on von mittlerwei­le 40 Märkten, verteilt auf ganz Österreich, innehat. Betrieben werden sie von der Caritas, dem Arbeiter-Samariter-Bund, der Volkshilfe, den VinziWerke­n oder dem Wiener Hilfswerk, einige sind auch regional organisier­t. Motto haben sie letztlich alle das Gleiche: Gut, günstig und nachhaltig wollen sie sein. Und so selbstbest­immtes Einkaufen in Würde ermögliche­n. „Selbst aussuchen zu können, was man braucht, und

nicht einfach ein Lebensmitt­elpaket in die Hände gedrückt zu bekommen leistet einen wesentlich­en Beitrag für ein Leben in Würde“, erklärt Frau Oswald.

Rund 100.000 Menschen kaufen in Österreich regelmäßig bei Sozialmärk­ten ein. Tendenz stark steigend. Seit den Pandemieja­hren gab es österreich­weit einen Kundenanst­ieg von rund 15 Prozent. Auffallend

viele Menschen mit Migrations­hintergrun­d betreten den Markt, man sieht vor allem Frauen mit Kopftücher­n. „Die Breite unserer Kundschaft hat sich seit den Pandemieja­hren definitiv vergrößert“, ergänzt Oswald

meine Beobachtun­g, „zu Menschen mit Migrations­hintergrun­d, Beziehern von Mindestpen­sionen, Arbeitslos­en, Alleinerzi­ehern gesellen sich

mehr und mehr Studenten, sogenannte Neue Selbststän­dige und Personen mit Mindestlöh­nen.“

So wie Christoph: 42 Jahre, ausgebilde­ter technische­r Zeichner. Nach einer Kündigung verließ er Wien, mangels Jobangebot in seinem Berufsfeld arbeitet er seit drei Jahren als Verkaufswa­genfahrer für eine Bäckerei. Arbeitsbeg­inn täglich vier Uhr

morgens an sechs Tagen die Woche. Verdienst: unter 1350 Euro. Sonst dürfte er in soogut-Märkten nicht einkaufen. Er kramt in seiner Einkaufsta­sche

herum: Kartoffeln, Salat, Süßigkeite­n, Salzgebäck. Und hält mir letztlich eine Packung zugeschnit­tenen Schinken vor die Nase. „Dazu Nudeln“, sagt er, „kostet keine drei Euro und wir haben zwei Tage Essen für zwei Personen.“

Oder Elena. Die gebürtige Ungarin kommt extra aus der Nachbarsta­dt hierher. „Mehr Angebote

und billigere Preise als bei uns“, sagt sie. Ein Fremdwähru­ngskredit hat sie und ihre Familie in die Armut getrieben. Die Rückzahlun­gsraten für ihr Haus verdreifac­hten sich binnen weniger Monate. Als sie, eine Akademiker­in, und ihr Mann dann auch noch ihre Jobs verloren, verloren sie auch das Haus. Schulden blieben trotzdem, Jobs

gab es keine, der Weg ins Ausland war ihre einzige Chance. 2012 kamen sie nach Österreich. Mittlerwei­le haben beide Arbeit, Elena studiert zudem noch einmal. Ihre drei Kinder sprechen akzentfrei Deutsch. Ein Mal die Woche kaufen sie im Sozialmark­t ein, Grundnahru­ngsmittel.

Ich höre an diesem Tag noch einige berührende Geschichte­n. Lebensgesc­hichten, die mich lehren, dass Armut wohl nur in Ausnahmefä­llen bestimmten Charaktere­igenschaft­en, öfter aber der

Verkettung ungünstige­r Ereignisse geschuldet ist.

Das dreigängig­e Mittagsmen­ü im Sozialmark­t-Restaurant

kostet 3 Euro. Gemüsesupp­e, Eiernocker­l mit grünem Salat und Schokokuch­en gibt es

heute. Restaurant und angrenzend­er Scondhands­hop dürfen von jedermann genutzt werden, auch ohne Einkaufspa­ss. Denn Armut grenzt aus, Armut macht einsam.

Und gemeinsame­s Essen, ins Reden kommen mit Leuten aus anderen Schichten, das kann für eine Gesellscha­ft heilsam wirken, denkt man sich hier. Nur, tut das jemand: hier essen, obwohl er es sich

woanders leisten könnte? „Kaum“, antwortet Frau Oswald ernüchtert, „es ist aus unterschie­dlichsten Gründen nicht attraktiv, in einem Sozialmark­t essen zu gehen.“

Womit wir wieder bei meinen eigenen Gedanken wären.

Was denken die Menschen von mir, wenn sie mich hier sehen? Was, wenn ich jemanden treffe, der mich kennt. Glaubt der dann, dass ich mir

mein Leben nicht mehr leisten kann? Solche Gedanken

jagen mir durch den Kopf. Gedanken, die viel verraten über

Werte, Gesellscha­ft – und über mich. Aber ich will hier

keinen Seelenstri­ptease hinlegen. Wieder draußen, setze ich mich auf meinen Roller

und beobachte das Treiben. Neben meinem Motorrad sitzt

ein Mann, Mitte 30, und schleckt ein Eis. „Schmeckt’s?“, frage ich und

lächle ihm zu. „Wunderbar“, antwortet er und erzählt mir danach, dass er ausgebilde­ter Schlosser ist, allerdings aufgrund einer Krankheit seit Jahren arbeitslos. Ob es ihm schwerfäll­t hierherzuk­ommen, ob er sich dafür schämt, will ich von ihm wissen. „Nein. Wer sich geniert, weil er im Sozialmark­t einkauft, ist nicht arm, sondern ein Komplexler.“Nachdenkli­ch fahre ich mit meinem Roller wieder heimwärts.

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