Das Leben, von unten gesehen
Wo Armut sichtbar wird. Ein Besuch beim Sozialmarkt verrät viel über Armut, unsere Gesellschaft und auch über uns selbst.
Als ich das erste Mal in meinem Leben den Sozialmarkt in meiner Heimatstadt betrete, tauchen Dämonen in mir auf, die ich nie und nimmer in mir wähnte. Über Sozialmärkte weiß ich, was man halt so weiß, wenn man regelmäßig Medien konsumiert. Dass nur jene Menschen einkaufsberechtigt sind, deren Einkünfte eine gewisse Grenze nicht überschreiten. Dass ein Einkaufspass beantragt werden
muss, dass die Waren, welche feilgeboten werden, von Industrie oder Handel gespendet wurden, weil das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten wurde oder sie im Überfluss vorhanden sind. Und dass man dadurch bedürftige und armutsgefährdete Menschen unterstützen, Nachhaltigkeit leben und unnötiger Ressourcenverschwendung entgegenwirken möchte.
Kurz: Rudimentäres Wissen ist mein Begleiter.
Der Markt entspricht dann in etwa meinen Erwartungen. Überschaubares Sortiment in enden wollender Stückzahl. Ungewohnt: Die Regale sind zum Teil halb leer. Waren, die in den Regalen, Truhen und Kisten fein säuberlich eingeordnet daliegen, übersichtlich, aber ohne jeglichen Aufputz, keine marktschreierischen Anpreisungen, keine gefinkelten Verkaufsstrategien, keine in den Bann ziehenden Dekorationen, lediglich in Klarsichtfolien geschobene Zettel.
„Für klassische Werbemaßnahmen haben wir weder Geld, noch sehen wir die Notwendigkeit, dies zu tun“, wird mir Ursula Oswald, die für die Öffentlichkeitsarbeit der soogut-Märkte zuständig ist, später erklären. Und dass sie die geringen finanziellen Mittel eher für Warenspendenaufrufe (Warenspenden werden nämlich geringer, weil klassische Märkte genauer kalkulieren) und zur Werbung ehrenamtlicher Mitarbeiter einsetzen würden. Nur einer von 20 Mitarbeitenden in soogut-Märkten ist angestellt, der Großteil arbeitet unentgeltlich.
Hannelore zum Beispiel, 67 Jahre alt, Pensionistin. Seit 15 Jahren
hilft sie meist zwei Mal die Woche mit. Sie schlichtet Regale ein, sortiert Waren, packt zu, wo nötig. Oder Muhammed, ein 43-jähriger Mazedonier, der gespendete
Waren abholt und im soogutMarkt abliefert. Weil er auf Jobsuche ist, hat er Zeit dafür.
Warum sie ehrenamtlich arbeiten, will ich von den beiden wissen. „Einen wertvollen Beitrag für die Gesellschaft leisten und meine Zeit sinnvoll einsetzen“, sagt Hannelore. Muhammed argumentiert ähnlich und sagt, er wolle der Stadt etwas zurückgeben, jener Stadt, die ihn aufgenommen
habe. Und dann verrät er auch noch, dass er als freiwilliger Mitarbeiter die Produkte noch einmal um die Hälfte billiger erstehen kann, als im Laden angeschrieben. Im Schnitt werden die
Lebensmittel und Alltagsgüter in den soogut-Märkten um zwei
Drittel günstiger als in klassischen Supermärkten angeboten. Ein Kilo Kartoffeln kostet 80 Cent, Zwiebeln das Kilo 80 Cent, eine Tafel Milka 70 Cent.
Soogut-Märkte sind Mitglieder von Soma Österreich & Partner, dem Dachverband aller Sozialmärkte, der die Organisation von mittlerweile 40 Märkten, verteilt auf ganz Österreich, innehat. Betrieben werden sie von der Caritas, dem Arbeiter-Samariter-Bund, der Volkshilfe, den VinziWerken oder dem Wiener Hilfswerk, einige sind auch regional organisiert. Motto haben sie letztlich alle das Gleiche: Gut, günstig und nachhaltig wollen sie sein. Und so selbstbestimmtes Einkaufen in Würde ermöglichen. „Selbst aussuchen zu können, was man braucht, und
nicht einfach ein Lebensmittelpaket in die Hände gedrückt zu bekommen leistet einen wesentlichen Beitrag für ein Leben in Würde“, erklärt Frau Oswald.
Rund 100.000 Menschen kaufen in Österreich regelmäßig bei Sozialmärkten ein. Tendenz stark steigend. Seit den Pandemiejahren gab es österreichweit einen Kundenanstieg von rund 15 Prozent. Auffallend
viele Menschen mit Migrationshintergrund betreten den Markt, man sieht vor allem Frauen mit Kopftüchern. „Die Breite unserer Kundschaft hat sich seit den Pandemiejahren definitiv vergrößert“, ergänzt Oswald
meine Beobachtung, „zu Menschen mit Migrationshintergrund, Beziehern von Mindestpensionen, Arbeitslosen, Alleinerziehern gesellen sich
mehr und mehr Studenten, sogenannte Neue Selbstständige und Personen mit Mindestlöhnen.“
So wie Christoph: 42 Jahre, ausgebildeter technischer Zeichner. Nach einer Kündigung verließ er Wien, mangels Jobangebot in seinem Berufsfeld arbeitet er seit drei Jahren als Verkaufswagenfahrer für eine Bäckerei. Arbeitsbeginn täglich vier Uhr
morgens an sechs Tagen die Woche. Verdienst: unter 1350 Euro. Sonst dürfte er in soogut-Märkten nicht einkaufen. Er kramt in seiner Einkaufstasche
herum: Kartoffeln, Salat, Süßigkeiten, Salzgebäck. Und hält mir letztlich eine Packung zugeschnittenen Schinken vor die Nase. „Dazu Nudeln“, sagt er, „kostet keine drei Euro und wir haben zwei Tage Essen für zwei Personen.“
Oder Elena. Die gebürtige Ungarin kommt extra aus der Nachbarstadt hierher. „Mehr Angebote
und billigere Preise als bei uns“, sagt sie. Ein Fremdwährungskredit hat sie und ihre Familie in die Armut getrieben. Die Rückzahlungsraten für ihr Haus verdreifachten sich binnen weniger Monate. Als sie, eine Akademikerin, und ihr Mann dann auch noch ihre Jobs verloren, verloren sie auch das Haus. Schulden blieben trotzdem, Jobs
gab es keine, der Weg ins Ausland war ihre einzige Chance. 2012 kamen sie nach Österreich. Mittlerweile haben beide Arbeit, Elena studiert zudem noch einmal. Ihre drei Kinder sprechen akzentfrei Deutsch. Ein Mal die Woche kaufen sie im Sozialmarkt ein, Grundnahrungsmittel.
Ich höre an diesem Tag noch einige berührende Geschichten. Lebensgeschichten, die mich lehren, dass Armut wohl nur in Ausnahmefällen bestimmten Charaktereigenschaften, öfter aber der
Verkettung ungünstiger Ereignisse geschuldet ist.
Das dreigängige Mittagsmenü im Sozialmarkt-Restaurant
kostet 3 Euro. Gemüsesuppe, Eiernockerl mit grünem Salat und Schokokuchen gibt es
heute. Restaurant und angrenzender Scondhandshop dürfen von jedermann genutzt werden, auch ohne Einkaufspass. Denn Armut grenzt aus, Armut macht einsam.
Und gemeinsames Essen, ins Reden kommen mit Leuten aus anderen Schichten, das kann für eine Gesellschaft heilsam wirken, denkt man sich hier. Nur, tut das jemand: hier essen, obwohl er es sich
woanders leisten könnte? „Kaum“, antwortet Frau Oswald ernüchtert, „es ist aus unterschiedlichsten Gründen nicht attraktiv, in einem Sozialmarkt essen zu gehen.“
Womit wir wieder bei meinen eigenen Gedanken wären.
Was denken die Menschen von mir, wenn sie mich hier sehen? Was, wenn ich jemanden treffe, der mich kennt. Glaubt der dann, dass ich mir
mein Leben nicht mehr leisten kann? Solche Gedanken
jagen mir durch den Kopf. Gedanken, die viel verraten über
Werte, Gesellschaft – und über mich. Aber ich will hier
keinen Seelenstriptease hinlegen. Wieder draußen, setze ich mich auf meinen Roller
und beobachte das Treiben. Neben meinem Motorrad sitzt
ein Mann, Mitte 30, und schleckt ein Eis. „Schmeckt’s?“, frage ich und
lächle ihm zu. „Wunderbar“, antwortet er und erzählt mir danach, dass er ausgebildeter Schlosser ist, allerdings aufgrund einer Krankheit seit Jahren arbeitslos. Ob es ihm schwerfällt hierherzukommen, ob er sich dafür schämt, will ich von ihm wissen. „Nein. Wer sich geniert, weil er im Sozialmarkt einkauft, ist nicht arm, sondern ein Komplexler.“Nachdenklich fahre ich mit meinem Roller wieder heimwärts.