Ich habe anderes zu tun
Der moderne Mensch entfernt sich immer mehr von Kirche und Religion. Was die Bildungs- und Wohlstandsgesellschaft damit zu tun hat und warum die Kirche in Russland so stark ist.
Minus fünf Prozent, minus zehn Prozent, minus 20 Prozent. Nach den religionssoziologischen Erhebungen in den vergangenen Jahrzehnten in Europa hat der Glaube an einen persönlichen Gott, der sich um jeden Menschen kümmert, stark abgenommen. So glaubten etwa in Belgien in den 1980er-Jahren noch 39 Prozent an einen persönlichen Gott, 2017 waren es nur mehr 21,6 Prozent.
Detlef Pollack, Religionssoziologe an der Universität Münster, ließ in seiner Vorlesung bei den Salzburger Hochschulwochen keinen Zweifel: „Religion verliert mehr und mehr ihren Weltbildcharakter“, der Gottesglaube sei durch eine „Verflüssigungstendenz“geprägt: „Stellte sich 1981 noch die Mehrheit der Gottgläubigen in Westeuropa Gott als eine persönliche Macht vor, so sah die Mehrheit in den meisten Ländern knapp 30 Jahre später Gott nur mehr als ein unpersönliches höheres Wesen.“
Entscheidend für die Zukunft der Kirchen und Religionen ist nach Ansicht Pollacks der Generationensprung. Der Rückgang der Kirchenbindung komme in
vielen Ländern Westeuropas weniger durch eine Entscheidung im Lebenslauf des Einzelnen zustande. Es sei vielmehr ein Bruch von einer Generation zur
nächsten. So liege z. B. in Polen der Anteil der unter 40-Jährigen, die Religion für wichtig halten, um 23 Prozentpunkte unter dem Anteil der über 40-Jährigen, die das sagen. Dieser Generationenbruch erklärt sich laut Pollack nicht zuletzt durch fehlende religiöse Erziehung. „Vielfach bleiben die Älteren selbst noch in der Kirche, übertragen aber ihre religiöskirchliche Bindung nicht mehr an die nächste Generation. Sie wenden nicht genügend Zeit und Energie auf, um ihre Kinder taufen zu lassen, im Glauben zu erziehen und in kirchliche Rituale einzuführen.“
Zweifellos muss man in Rechnung stellen, dass die massiven Austrittswellen aus der katholischen Kirche in der jüngeren Vergangenheit stark eine Folge des Missbrauchsskandals waren und sind. Das zeigt deutlich der Vergleich mit der evangelischen Kirche in Deutschland. Deren Austrittszahlen sind in der Regel
höher. Nur in den Jahren 2011 und 2021, in denen sich die Missbrauchsdebatte besonders zugespitzt
hat, traten mehr Katholiken als Evangelische aus ihrer Kirche aus. Davon abgesehen diagnostiziert der Münsteraner Religionssoziologe aber auch eine eher schleichende als bewusste Wegbewegung vom religiösen Glauben, die alle Kirchen und Religionen
betreffe: „Die Nachlässigkeit in der religiösen Kindererziehung beruht möglicherweise weniger auf einer
bewussten Entscheidung gegen die Kirche und für säkulare Alternativen als mehr auf einer gewissen Gleichgültigkeit gegenüber religiösen Fragen. Es ist den Eltern möglicherweise einfach nicht so wichtig
und vielleicht auch zu aufwendig, die Kinder religiös zu erziehen.“Für diese Interpretation spreche, dass
Menschen als Grund für den Austritt häufig angäben, sie könnten mit der Kirche nicht viel anfangen.
Anders gewendet: Je mehr materielle Ressourcen und daraus resultierende Gelegenheiten z. B. zur Freizeitgestaltung vorhanden sind, desto wahrscheinlicher geben Menschen religiöse Praktiken auf – ohne sich dessen im Einzelfall genau bewusst zu sein. So
hat die Religionssoziologie eine Neigung festgestellt, die Häufigkeit des Gottesdienstbesuchs höher zu veranschlagen, als sie tatsächlich ist. Die Angaben bei
Befragungen in Deutschland liegen in der Regel mehr als doppelt so hoch wie die offiziellen Zählungen der
Kirchen. Zwischen 2010 und 2015 sagten 23 Prozent der befragten Katholiken und acht Prozent der Protestanten in Deutschland, sie gingen regelmäßig jede
Woche zum Gottesdienst. Dagegen ergaben die Zählungen nur 10,2 Prozent regelmäßige Kirchgänger bei den Katholiken und 3,3 Prozent bei den Protestanten.
„Offenbar verstehen sich viele Kirchenmitglieder noch immer als Gottesdienstbesucher, auch wenn sie nicht mehr in die Kirche gehen“, sagte Pollack. „Ihr Fernbleiben vom Gottesdienst kann dann aber nicht auf eine bewusste Entscheidung gegen den Gottesdienst zurückgeführt werden. Im Gegenteil.
Wahrscheinlich haben sie immer wieder die Absicht, den Gottesdienst zu besuchen, obwohl sie es dann bleiben lassen. Als wichtigsten Grund für ihr
Fernbleiben geben sie an, sie hätten am Sonntag anderes zu tun – anderes, dem sie offenbar mehr Bedeutung
beimessen.“In die Religionssoziologie ist dieses Phänomen als „DistraktionsHypothese“eingegangen, als „Aufmerksamkeitsverschiebung“. Die Menschen würden von der Beschäftigung mit Glaubensdingen durch die Konzentration auf nichtreligiöse Aktivitäten abgezogen, die ihnen wichtiger zu sein scheinen. Sorry, Herr Pfarrer, ich habe anderes zu tun!
Bleibt die derzeit drängende Frage, warum die Kirche in Russland nach wie vor einen so starken Einfluss auf die Bevölkerung hat. Einen Einfluss, den Patriarch Kyrill in den Dienst von Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine stellt. Der Hauptgrund wird darin gesehen, dass in Russland 73 Prozent die Religion für einen wichtigen Bestandteil ihrer nationalen Identität halten. Zum Vergleich: In Belgien, Frankreich und Schweden sind es weniger als 20 Prozent. Insgesamt antworten auf die Frage, ob sie die Zugehörigkeit zur
dominanten Religionsgemeinschaft in einem Land als bedeutsam dafür ansehen, ein guter Staatsbürger zu sein, in Ost- und Mitteleuropa weitaus mehr Bürgerinnen und Bürger mit Ja als in Westeuropa.
Entsprechend stärker ist der Grad der Religiosität dort, wo Religion als Faktor der nationalen Identität und des Nationalstolzes gesehen wird. In Russland
kommt aber noch dazu, dass das Vertrauen in die Duma, das russische Parlament, und in die Politik gering ist und eine hohe Unzufriedenheit mit der wirtschaftlichen Lage vorherrscht. Die russisch-orthodoxe Kirche sei offenbar ein Faktor der Kompensation für vielfache politische und wirtschaftliche Enttäuschungen, resümiert Detlef Pollack. „Und fasst man den Zusammenhang zwischen der Nationalisierung der Religion und Gefühlen kultureller Überlegenheit
ins Auge, dann dienen Kirche und Religion offenbar auch als ein Mittel zur Aufwertung des russischen
Volkes gegenüber anderen Nationen.“
Detlef Pollack ist Professor für Religionssoziologie an der Universität Münster. 2022 erschien in 2. Auflage sein Buch „Religion in der Moderne: Ein internationaler Vergleich“(Verlag Campus).
Die Salzburger Hochschulwochen gehen am Sonntag um 10.30 Uhr in der Aula der Universität zu Ende mit der Festrede von Armin Nassehi: „Wozu Universitäten und Wissenschaft? Über die Grenzen wissenschaftlichen Wissens“. Der Soziologe an der Universität München brachte 2021 sein Buch „Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft“(Verlag C.H.Beck) heraus.