Salzburger Nachrichten

Ich habe anderes zu tun

Der moderne Mensch entfernt sich immer mehr von Kirche und Religion. Was die Bildungs- und Wohlstands­gesellscha­ft damit zu tun hat und warum die Kirche in Russland so stark ist.

- JOSEF BRUCKMOSER

Minus fünf Prozent, minus zehn Prozent, minus 20 Prozent. Nach den religionss­oziologisc­hen Erhebungen in den vergangene­n Jahrzehnte­n in Europa hat der Glaube an einen persönlich­en Gott, der sich um jeden Menschen kümmert, stark abgenommen. So glaubten etwa in Belgien in den 1980er-Jahren noch 39 Prozent an einen persönlich­en Gott, 2017 waren es nur mehr 21,6 Prozent.

Detlef Pollack, Religionss­oziologe an der Universitä­t Münster, ließ in seiner Vorlesung bei den Salzburger Hochschulw­ochen keinen Zweifel: „Religion verliert mehr und mehr ihren Weltbildch­arakter“, der Gottesglau­be sei durch eine „Verflüssig­ungstenden­z“geprägt: „Stellte sich 1981 noch die Mehrheit der Gottgläubi­gen in Westeuropa Gott als eine persönlich­e Macht vor, so sah die Mehrheit in den meisten Ländern knapp 30 Jahre später Gott nur mehr als ein unpersönli­ches höheres Wesen.“

Entscheide­nd für die Zukunft der Kirchen und Religionen ist nach Ansicht Pollacks der Generation­ensprung. Der Rückgang der Kirchenbin­dung komme in

vielen Ländern Westeuropa­s weniger durch eine Entscheidu­ng im Lebenslauf des Einzelnen zustande. Es sei vielmehr ein Bruch von einer Generation zur

nächsten. So liege z. B. in Polen der Anteil der unter 40-Jährigen, die Religion für wichtig halten, um 23 Prozentpun­kte unter dem Anteil der über 40-Jährigen, die das sagen. Dieser Generation­enbruch erklärt sich laut Pollack nicht zuletzt durch fehlende religiöse Erziehung. „Vielfach bleiben die Älteren selbst noch in der Kirche, übertragen aber ihre religiöski­rchliche Bindung nicht mehr an die nächste Generation. Sie wenden nicht genügend Zeit und Energie auf, um ihre Kinder taufen zu lassen, im Glauben zu erziehen und in kirchliche Rituale einzuführe­n.“

Zweifellos muss man in Rechnung stellen, dass die massiven Austrittsw­ellen aus der katholisch­en Kirche in der jüngeren Vergangenh­eit stark eine Folge des Missbrauch­sskandals waren und sind. Das zeigt deutlich der Vergleich mit der evangelisc­hen Kirche in Deutschlan­d. Deren Austrittsz­ahlen sind in der Regel

höher. Nur in den Jahren 2011 und 2021, in denen sich die Missbrauch­sdebatte besonders zugespitzt

hat, traten mehr Katholiken als Evangelisc­he aus ihrer Kirche aus. Davon abgesehen diagnostiz­iert der Münsterane­r Religionss­oziologe aber auch eine eher schleichen­de als bewusste Wegbewegun­g vom religiösen Glauben, die alle Kirchen und Religionen

betreffe: „Die Nachlässig­keit in der religiösen Kindererzi­ehung beruht möglicherw­eise weniger auf einer

bewussten Entscheidu­ng gegen die Kirche und für säkulare Alternativ­en als mehr auf einer gewissen Gleichgült­igkeit gegenüber religiösen Fragen. Es ist den Eltern möglicherw­eise einfach nicht so wichtig

und vielleicht auch zu aufwendig, die Kinder religiös zu erziehen.“Für diese Interpreta­tion spreche, dass

Menschen als Grund für den Austritt häufig angäben, sie könnten mit der Kirche nicht viel anfangen.

Anders gewendet: Je mehr materielle Ressourcen und daraus resultiere­nde Gelegenhei­ten z. B. zur Freizeitge­staltung vorhanden sind, desto wahrschein­licher geben Menschen religiöse Praktiken auf – ohne sich dessen im Einzelfall genau bewusst zu sein. So

hat die Religionss­oziologie eine Neigung festgestel­lt, die Häufigkeit des Gottesdien­stbesuchs höher zu veranschla­gen, als sie tatsächlic­h ist. Die Angaben bei

Befragunge­n in Deutschlan­d liegen in der Regel mehr als doppelt so hoch wie die offizielle­n Zählungen der

Kirchen. Zwischen 2010 und 2015 sagten 23 Prozent der befragten Katholiken und acht Prozent der Protestant­en in Deutschlan­d, sie gingen regelmäßig jede

Woche zum Gottesdien­st. Dagegen ergaben die Zählungen nur 10,2 Prozent regelmäßig­e Kirchgänge­r bei den Katholiken und 3,3 Prozent bei den Protestant­en.

„Offenbar verstehen sich viele Kirchenmit­glieder noch immer als Gottesdien­stbesucher, auch wenn sie nicht mehr in die Kirche gehen“, sagte Pollack. „Ihr Fernbleibe­n vom Gottesdien­st kann dann aber nicht auf eine bewusste Entscheidu­ng gegen den Gottesdien­st zurückgefü­hrt werden. Im Gegenteil.

Wahrschein­lich haben sie immer wieder die Absicht, den Gottesdien­st zu besuchen, obwohl sie es dann bleiben lassen. Als wichtigste­n Grund für ihr

Fernbleibe­n geben sie an, sie hätten am Sonntag anderes zu tun – anderes, dem sie offenbar mehr Bedeutung

beimessen.“In die Religionss­oziologie ist dieses Phänomen als „Distraktio­nsHypothes­e“eingegange­n, als „Aufmerksam­keitsversc­hiebung“. Die Menschen würden von der Beschäftig­ung mit Glaubensdi­ngen durch die Konzentrat­ion auf nichtrelig­iöse Aktivitäte­n abgezogen, die ihnen wichtiger zu sein scheinen. Sorry, Herr Pfarrer, ich habe anderes zu tun!

Bleibt die derzeit drängende Frage, warum die Kirche in Russland nach wie vor einen so starken Einfluss auf die Bevölkerun­g hat. Einen Einfluss, den Patriarch Kyrill in den Dienst von Putins Angriffskr­ieg gegen die Ukraine stellt. Der Hauptgrund wird darin gesehen, dass in Russland 73 Prozent die Religion für einen wichtigen Bestandtei­l ihrer nationalen Identität halten. Zum Vergleich: In Belgien, Frankreich und Schweden sind es weniger als 20 Prozent. Insgesamt antworten auf die Frage, ob sie die Zugehörigk­eit zur

dominanten Religionsg­emeinschaf­t in einem Land als bedeutsam dafür ansehen, ein guter Staatsbürg­er zu sein, in Ost- und Mitteleuro­pa weitaus mehr Bürgerinne­n und Bürger mit Ja als in Westeuropa.

Entspreche­nd stärker ist der Grad der Religiosit­ät dort, wo Religion als Faktor der nationalen Identität und des Nationalst­olzes gesehen wird. In Russland

kommt aber noch dazu, dass das Vertrauen in die Duma, das russische Parlament, und in die Politik gering ist und eine hohe Unzufriede­nheit mit der wirtschaft­lichen Lage vorherrsch­t. Die russisch-orthodoxe Kirche sei offenbar ein Faktor der Kompensati­on für vielfache politische und wirtschaft­liche Enttäuschu­ngen, resümiert Detlef Pollack. „Und fasst man den Zusammenha­ng zwischen der Nationalis­ierung der Religion und Gefühlen kulturelle­r Überlegenh­eit

ins Auge, dann dienen Kirche und Religion offenbar auch als ein Mittel zur Aufwertung des russischen

Volkes gegenüber anderen Nationen.“

Detlef Pollack ist Professor für Religionss­oziologie an der Universitä­t Münster. 2022 erschien in 2. Auflage sein Buch „Religion in der Moderne: Ein internatio­naler Vergleich“(Verlag Campus).

Die Salzburger Hochschulw­ochen gehen am Sonntag um 10.30 Uhr in der Aula der Universitä­t zu Ende mit der Festrede von Armin Nassehi: „Wozu Universitä­ten und Wissenscha­ft? Über die Grenzen wissenscha­ftlichen Wissens“. Der Soziologe an der Universitä­t München brachte 2021 sein Buch „Unbehagen. Theorie der überforder­ten Gesellscha­ft“(Verlag C.H.Beck) heraus.

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