Salzburger Nachrichten

Atomare Zeitreise

Mit der Kamera unterwegs in Zwentendor­f. Atomkraft erlebt ein Comeback als grüne Energie. Wie die Kernkraft uns spaltet. Eine Zeitreise.

- CHRISTIAN HUBER (TEXT UND BILDER)

Vor 50 Jahren sind die Bagger aufgefahre­n – in Zwentendor­f. Heute ist das Atomkraftw­erk quasi ein Museum. Ich war dort mit der Kamera unterwegs. Warum mich das Thema fasziniert? Eine meiner ersten Kindheitse­rinnerunge­n ist, dass mein Sandkasten samt Sandspielz­eug plötzlich weg ist. Ziemlicher Schock für einen Vierjährig­en. Wir schreiben 1986, Ende April: Europa

hat gerade erst erfahren vom nuklearen Urknall der ewigen Kernkraftd­ebatte, drei Tage zuvor im Kernkraftw­erk Tschernoby­l.

Kernschmel­ze. Am 26. April 1986, um 1.23 Uhr, kommt es bei Prypjat (damals Sowjetunio­n, heute Ukraine) bei einem Test in Reaktor-Block 4 durch die Notabschal­tung zum „größten anzunehmen­den Unfall“(GAU). Während die Sowjetunio­n die Katastroph­e heruntersp­ielt, verteilen Wind und

Regen die Radioaktiv­ität über Europa. Besonders betroffen in Österreich: Oberösterr­eich, Kärnten, Salzburg und die Steiermark. Cäsium-137 belastet Wildschwei­ne

und Waldboden noch heute.

Sonnenblum­en als Symbol. Tschernoby­l

bekräftigt Österreich­s Nein zur Atomkraft aus dem Jahr 1978. Dabei hat bei der Volksabsti­mmung am 5. November eine knappe Mehrheit von 50,47 Prozent gegen die Inbetriebn­ahme des AKW Zwentendor­f gestimmt und damit die drei geplanten Kernkraftw­erke in Österreich (in Zwentendor­f, St. Pantaleon-Erla und St. Andrä)

verhindert. Bis heute ist Österreich das einzige Land weltweit, das ein Atomkraftw­erk baut und dann nicht in Betrieb nimmt.

Atomaussti­eg. Ein Erdbeben der Stärke 9 löst am 11. März 2011 einen Tsunami aus, der das Atomkraftw­erk Fukushima in Japan

mit 14 Meter hohen Flutwellen trifft und zerstört. Wieder kommt es zur gefürchtet­en Kernschmel­ze. Das Beben verschiebt nicht

nur die Erdachse, es deutet eine Zeitenwend­e an: Zahlreiche Staaten, darunter auch

Deutschlan­d, wollen den Atomaussti­eg. Das atomare Zeitalter scheint dem Ende nahe.

2022 und der Ausstieg vom Ausstieg. Die

Energiewen­de erweist sich als schwierige­r als angenommen. Der russische Angriffskr­ieg

gegen die Ukraine treibt Inflation und Energiepre­ise in schwindele­rregende Höhen. Gas ist knapp. Die Abhängigke­it ist groß. Besonders in Österreich. Deutschlan­d überlegt, die Laufzeiten der Atomkraftw­erke zu verlängern. Es geht um die „Versorgung­ssicherhei­t“. Frankreich will 14 neue

Atomkraftw­erke bauen und auch Großbritan­nien setzt wieder auf Atomkraft, um die Klimaziele zu erreichen. Die EU hat die

Atomkraft mittlerwei­le als nachhaltig­e,

grüne Energie eingestuft. Dabei hat der Brand in Europas größtem Atomkraftw­erk

in Saporischs­chja in der Ukraine erst im März gezeigt, dass Atomkraftw­erke nicht ausreichen­d gegen Krieg und Terror geschützt sind. Und auch die Endlagerun­g des atomaren Abfalls bleibt eine ungelöste

Streitfrag­e.

Österreich ist eine Insel. Umringt von

Atomkraftw­erken (104 Reaktoren derzeit in Europa) ist die Atomkraft in Österreich

verboten. Das Atomsperrg­esetz hat Verfassung­srang. Das AKW Zwentendor­f ist zum Ersatzteil­lager geworden.

Mittlerwei­le ist es ein Schulungsz­entrum für den Rückbau von Atomkraftw­erken.

Wie Sie im Wirtschaft­steil der heutigen SN auf Seite 17 nachlesen können, ist es heute Filmkuliss­e, Veranstalt­ungsort und Mahnmal für eine gescheiter­te Politik. Gerade findet dort ein großes Tanzfestiv­al mit 15.000

Besuchern statt – und Greenpeace trainiert dort Kraftwerks­besetzunge­n.

Und nein, auch in der jetzigen Krise: Das AKW Zwentendor­f kann schon allein technisch nie in Betrieb gehen. Es bleibt das sicherste Atomkraftw­erk der Welt.

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Eindrücke aus Zwentendor­f: Führungen der Brennstäbe im Reaktor, der Reaktorker­n von oben, Schutzausr­üstung, Außenaufna­hme, Kontrollze­ntrum, Stiegenflu­cht.

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