Atomare Zeitreise
Mit der Kamera unterwegs in Zwentendorf. Atomkraft erlebt ein Comeback als grüne Energie. Wie die Kernkraft uns spaltet. Eine Zeitreise.
Vor 50 Jahren sind die Bagger aufgefahren – in Zwentendorf. Heute ist das Atomkraftwerk quasi ein Museum. Ich war dort mit der Kamera unterwegs. Warum mich das Thema fasziniert? Eine meiner ersten Kindheitserinnerungen ist, dass mein Sandkasten samt Sandspielzeug plötzlich weg ist. Ziemlicher Schock für einen Vierjährigen. Wir schreiben 1986, Ende April: Europa
hat gerade erst erfahren vom nuklearen Urknall der ewigen Kernkraftdebatte, drei Tage zuvor im Kernkraftwerk Tschernobyl.
Kernschmelze. Am 26. April 1986, um 1.23 Uhr, kommt es bei Prypjat (damals Sowjetunion, heute Ukraine) bei einem Test in Reaktor-Block 4 durch die Notabschaltung zum „größten anzunehmenden Unfall“(GAU). Während die Sowjetunion die Katastrophe herunterspielt, verteilen Wind und
Regen die Radioaktivität über Europa. Besonders betroffen in Österreich: Oberösterreich, Kärnten, Salzburg und die Steiermark. Cäsium-137 belastet Wildschweine
und Waldboden noch heute.
Sonnenblumen als Symbol. Tschernobyl
bekräftigt Österreichs Nein zur Atomkraft aus dem Jahr 1978. Dabei hat bei der Volksabstimmung am 5. November eine knappe Mehrheit von 50,47 Prozent gegen die Inbetriebnahme des AKW Zwentendorf gestimmt und damit die drei geplanten Kernkraftwerke in Österreich (in Zwentendorf, St. Pantaleon-Erla und St. Andrä)
verhindert. Bis heute ist Österreich das einzige Land weltweit, das ein Atomkraftwerk baut und dann nicht in Betrieb nimmt.
Atomausstieg. Ein Erdbeben der Stärke 9 löst am 11. März 2011 einen Tsunami aus, der das Atomkraftwerk Fukushima in Japan
mit 14 Meter hohen Flutwellen trifft und zerstört. Wieder kommt es zur gefürchteten Kernschmelze. Das Beben verschiebt nicht
nur die Erdachse, es deutet eine Zeitenwende an: Zahlreiche Staaten, darunter auch
Deutschland, wollen den Atomausstieg. Das atomare Zeitalter scheint dem Ende nahe.
2022 und der Ausstieg vom Ausstieg. Die
Energiewende erweist sich als schwieriger als angenommen. Der russische Angriffskrieg
gegen die Ukraine treibt Inflation und Energiepreise in schwindelerregende Höhen. Gas ist knapp. Die Abhängigkeit ist groß. Besonders in Österreich. Deutschland überlegt, die Laufzeiten der Atomkraftwerke zu verlängern. Es geht um die „Versorgungssicherheit“. Frankreich will 14 neue
Atomkraftwerke bauen und auch Großbritannien setzt wieder auf Atomkraft, um die Klimaziele zu erreichen. Die EU hat die
Atomkraft mittlerweile als nachhaltige,
grüne Energie eingestuft. Dabei hat der Brand in Europas größtem Atomkraftwerk
in Saporischschja in der Ukraine erst im März gezeigt, dass Atomkraftwerke nicht ausreichend gegen Krieg und Terror geschützt sind. Und auch die Endlagerung des atomaren Abfalls bleibt eine ungelöste
Streitfrage.
Österreich ist eine Insel. Umringt von
Atomkraftwerken (104 Reaktoren derzeit in Europa) ist die Atomkraft in Österreich
verboten. Das Atomsperrgesetz hat Verfassungsrang. Das AKW Zwentendorf ist zum Ersatzteillager geworden.
Mittlerweile ist es ein Schulungszentrum für den Rückbau von Atomkraftwerken.
Wie Sie im Wirtschaftsteil der heutigen SN auf Seite 17 nachlesen können, ist es heute Filmkulisse, Veranstaltungsort und Mahnmal für eine gescheiterte Politik. Gerade findet dort ein großes Tanzfestival mit 15.000
Besuchern statt – und Greenpeace trainiert dort Kraftwerksbesetzungen.
Und nein, auch in der jetzigen Krise: Das AKW Zwentendorf kann schon allein technisch nie in Betrieb gehen. Es bleibt das sicherste Atomkraftwerk der Welt.