Salzburger Nachrichten

Mit dem Fisch über den Berg

Auf der Spur der Sardellen durch das Piemont. Mit Wein, Haselnuss und Trüffel bildet der kleine Fisch ein köstliches Quartett in der italienisc­hen Region.

- BARBARA HUTTER

Der Blick wird enger. Vorerst. Wer beim hübschen Städtchen Dronero die hügelige Weite des westlichen Piemont

hinter sich lässt, folgt der Maira flussaufwä­rts ins gleichnami­ge Tal. Vor sich imposante Gipfel der Cottischen Alpen, links und rechts tiefgrüne Hänge. Kurven und wieder Kurven, kleine Dörfchen, an Felswände geklebt. Jetzt noch ein letzter Anstieg: Ein Schwenker nach Süden, ein gutes Dutzend Serpentine­n, dann ist das Ziel erreicht. Celle di Macra, aus einer Einsiedele­i entstanden, ist ein Bergdorf hoch über

dem Val di Maira. Hier, auf fast 1300 Metern Seehöhe, ist der Horizont

wieder weit, der Nachbar Frankreich ganz nah. Ein idealer Landstrich für Bergwander­er, führt doch die „Grande Traversata“, der 1000

Kilometer lange Weitwander­weg durch den piemontesi­schen Westalpenb­ogen, hier in der Nähe vorbei.

Ein Bergdorf mit rund 60 Einwohnern also, Steinhäuse­rn, einer Pfarrkirch­e aus dem 14. Jahrhunder­t mit einem Altarbild des flämischen Meisters Hans Clemer.

Und mit einem Museum, in dem es vor allem um eines geht: die Sardelle.

Marilena Bonetto öffnet die solide Eichentür der ehemaligen Pestkapell­e aus dem 17. Jahrhunder­t, die heute das „Museo Seles“beherbergt. Sie ist selbst Tochter eines „Acciugaio“, eines Sardellenh­ändlers, und erzählt gerne, wie der kleine Fisch in die Berge kam. „Im Winter war hier früher nichts los. Die

jungen Frauen stiegen im Herbst ins Tal zum Maronisamm­eln, aber die jungen Männer wanderten nach dem Sommer über die Gebirgspäs­se zum Meer, um Arbeit in den Salinen Frankreich­s zu finden.“Hart war es, das Dasein in den heute so idyllische­n Bergen, ein, zwei Kühe und ein

kleiner Gemüsegart­en mussten reichen. Im Winter war das nicht genug für alle. Doch Not macht erfinderis­ch.

Salz war für die Küche des Piemont und die Haltbarmac­hung stets essenziell. In Fässern wurde es von der Küste

– die Genueser hatten das Salzmonopo­l bis Marseille – ins Hinterland getragen und mit hohen Steuern, den „Gabelle“

belegt. Salz war Zahlungsmi­ttel, heute noch erinnert das früher geläufige „Salär“daran. Der Salzschmug­gel war also

nur logische Konsequenz, junge Männer trugen das weiße Gold über Steige und Pässe der Seealpen. Wenn doch einmal ein Zöllner kontrollie­rte, wurde der Deckel geöffnet,

und im Fass lagen: Sardellen.

Zwei, drei Handbreit der Arme-Leute-Fische verdeckten das kostbare Salz, und im Laufe der Jahrhunder­te wurde die Sardelle selbst zum Handelsgut. Das Metier des „Acciugaio“war geboren, die Sardelle in der piemontesi­schen Küche angekommen.

Recht anschaulic­h zeigt das „Museo Seles“den Werdegang der Fischhändl­er, vom Fass zum stets blau bemalten Karren bis hin zum motorisier­ten Piaggio Ape, erzählt von der Blütezeit rund um 1850, als Celle di Macra noch 1400 Einwohner hatte und die Acciugai bis nach Turin und Milano lieferten.

„Die Jungen hatten immer einen älteren, erfahrenen Acciugaio dabei, der mit einem Holzstäbch­en die unteren Schichten kontrollie­rte, wo die Fischverkä­ufer an der Küste gerne verdorbene Ware versteckte­n.“Marilena schmunzelt. Sie weist auf ein großes Fischernet­z und eine Lampe zwischen den Fässern und Gerätschaf­ten hin, Geschenk eines sizilianis­chen Besuchers, und zeigt die vielen historisch­en Fotos, auf denen sich junge Männer stolz neben ihren schwer beladenen Karren in Positur werfen. Einer davon ist ihr Vater Giacomo Bonetto.

Gute zwei Autostunde­n vom Val Maira entfernt, in der Provinz Alessandri­a, hat der kleine Fisch auch das Leben von Roberto Santopietr­o geprägt. Nach mehreren Jahren an der ligurische­n Küste als Betreiber zweier Hotels und eines Sternerest­aurants hat der junge Piemontese­r gelernt, Sardellen zuzubereit­en. Er

lacht, wenn er daran zurückdenk­t: „Wer Koch werden wollte, dem hat der Küchenchef erst einmal gesagt, da, putz Sardellen!“Ende der 1970er verkaufte man die Fische zu

umgerechne­t 50 Cent pro Kiste von sieben Kilo. Die einst minderwert­igen Fische zum Schleuderp­reis sind mittlerwei­le zur Delikatess­e geworden. Und wie so oft im Leben kommt es auch hier auf die Qualität an.

Der junge Roberto erinnert sich an die farbenfroh gefüllten Einmachglä­ser seiner Nonna, die hübsch aufgereiht in den „Infernot“– den in Tuffstein geschlagen­en Weinkeller­n – standen, und beschließt, nach Vignale Monferrato zurückzuke­hren. Von da an

widmet er sich mithilfe des kleinen, schwarzen Rezeptbuch­s seiner Nonna Palmira der hohen Kunst des Einlegens von Gemüse, Obst und natürlich auch Sardellen. Seine Schraubglä­ser mit dem köstlichen Inhalt, von Sugo bis Mostarda, von Marmelade bis Artischock­encreme, stehen

heute in den besten Delikatess­enläden Europas, ein Drittel seines Umsatzes macht er mit Sardellen. Über diese Fische kann man bei ihm noch etwas lernen, etwa, dass die ganz kleinen gar nicht unbedingt die besten sind, sondern die größeren Exemplare besser reifen. Oder, dass die besten Sardinen aus dem kühlen Wasser Kantabrien­s kommen, dass die Spanier dort klug sind und die Schonzeite­n der

Fische respektier­en, und wie man erkennt, ob die Kühlkette eingehalte­n wurde. Wer sich auf die Spuren der Acciugai

begeben möchte, den schickt Roberto nach Asti, zum samstäglic­hen Wochenmark­t.

Roberto ist, wie auch sein Bruder Carlo, der in Vignale Monferrato ausgezeich­nete Weine macht und einen Agriturism­o betreibt, ein Tüftler und Feinschmec­ker, immer zu schmackhaf­ten Experiment­en aufgelegt und Wegbegleit­er der ersten Stunde des Slow-Food-Gründers Carlo Petrini. Letzterer ist auch der Grund, warum an einen bestimmten Klassiker bis heute nicht gerührt wird: die von Petrini

geliebten, mit Sardellen und Kapern gefüllten Kirschpfef­feroni. Roberto grinst. „Er hat immer gesagt, das ist das piemontesi­sche Viagra.“

Viele Besucher kommen jedes Jahr aus der ganzen Welt ins Piemont, zum Wandern und Radfahren, aber auch wegen der Weine – von Barbera über Nebbiolo bis hin zu Raritäten wie Carlo Santopietr­os leichtfüßi­gem Rotwein Grignolino –, wegen der feinen Küche und der erstklassi­gen Zutaten, nach Bra, nach Alba, nach Asti, aber eben auch in die Region von Monferrato mit ihrem welligen Horizont und den malerische­n, steinernen Städtchen auf den Hügelkuppe­n.

Die Sardelle ist in der ganzen Region heute omnipräsen­t, nicht zuletzt in einem der Lieblingsg­erichte

der Piemontese­r, der „bagna càoda“oder auch „bagna cauda“: frischem Gemüse mit einer warmen Sauce aus Sardellen, Öl und Knoblauch. Das sei eine klassische Methode, schon etwas ältere Sardellen sehr schmackhaf­t zu verwerten. „Ein Gericht zum Verlieben“, schwärmt Roberto Santopietr­o. „Das kennt man ja vom Knoblauch, wenn den einer isst, dann muss ihn der andere auch essen.“Der Meister der Konserve selbst setzt auf Einfachhei­t. Er isst die Sardelle am liebsten pur, mit Butter und Brot.

 ?? ?? Keine Küste, aber Weingärten und beachtlich­e Berggipfel: Ausblick im Piemont über das Val Maira auf die Cottischen Alpen.
Keine Küste, aber Weingärten und beachtlich­e Berggipfel: Ausblick im Piemont über das Val Maira auf die Cottischen Alpen.
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Vater und die Tradition der Acciugai: Marilena Bonetto.
Stolz auf das Museum, ihren Vater und die Tradition der Acciugai: Marilena Bonetto.
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Das Bergdorf Celle di Macra mit seiner Kirche San Giovanni Battista.

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