Mit dem Fisch über den Berg
Auf der Spur der Sardellen durch das Piemont. Mit Wein, Haselnuss und Trüffel bildet der kleine Fisch ein köstliches Quartett in der italienischen Region.
Der Blick wird enger. Vorerst. Wer beim hübschen Städtchen Dronero die hügelige Weite des westlichen Piemont
hinter sich lässt, folgt der Maira flussaufwärts ins gleichnamige Tal. Vor sich imposante Gipfel der Cottischen Alpen, links und rechts tiefgrüne Hänge. Kurven und wieder Kurven, kleine Dörfchen, an Felswände geklebt. Jetzt noch ein letzter Anstieg: Ein Schwenker nach Süden, ein gutes Dutzend Serpentinen, dann ist das Ziel erreicht. Celle di Macra, aus einer Einsiedelei entstanden, ist ein Bergdorf hoch über
dem Val di Maira. Hier, auf fast 1300 Metern Seehöhe, ist der Horizont
wieder weit, der Nachbar Frankreich ganz nah. Ein idealer Landstrich für Bergwanderer, führt doch die „Grande Traversata“, der 1000
Kilometer lange Weitwanderweg durch den piemontesischen Westalpenbogen, hier in der Nähe vorbei.
Ein Bergdorf mit rund 60 Einwohnern also, Steinhäusern, einer Pfarrkirche aus dem 14. Jahrhundert mit einem Altarbild des flämischen Meisters Hans Clemer.
Und mit einem Museum, in dem es vor allem um eines geht: die Sardelle.
Marilena Bonetto öffnet die solide Eichentür der ehemaligen Pestkapelle aus dem 17. Jahrhundert, die heute das „Museo Seles“beherbergt. Sie ist selbst Tochter eines „Acciugaio“, eines Sardellenhändlers, und erzählt gerne, wie der kleine Fisch in die Berge kam. „Im Winter war hier früher nichts los. Die
jungen Frauen stiegen im Herbst ins Tal zum Maronisammeln, aber die jungen Männer wanderten nach dem Sommer über die Gebirgspässe zum Meer, um Arbeit in den Salinen Frankreichs zu finden.“Hart war es, das Dasein in den heute so idyllischen Bergen, ein, zwei Kühe und ein
kleiner Gemüsegarten mussten reichen. Im Winter war das nicht genug für alle. Doch Not macht erfinderisch.
Salz war für die Küche des Piemont und die Haltbarmachung stets essenziell. In Fässern wurde es von der Küste
– die Genueser hatten das Salzmonopol bis Marseille – ins Hinterland getragen und mit hohen Steuern, den „Gabelle“
belegt. Salz war Zahlungsmittel, heute noch erinnert das früher geläufige „Salär“daran. Der Salzschmuggel war also
nur logische Konsequenz, junge Männer trugen das weiße Gold über Steige und Pässe der Seealpen. Wenn doch einmal ein Zöllner kontrollierte, wurde der Deckel geöffnet,
und im Fass lagen: Sardellen.
Zwei, drei Handbreit der Arme-Leute-Fische verdeckten das kostbare Salz, und im Laufe der Jahrhunderte wurde die Sardelle selbst zum Handelsgut. Das Metier des „Acciugaio“war geboren, die Sardelle in der piemontesischen Küche angekommen.
Recht anschaulich zeigt das „Museo Seles“den Werdegang der Fischhändler, vom Fass zum stets blau bemalten Karren bis hin zum motorisierten Piaggio Ape, erzählt von der Blütezeit rund um 1850, als Celle di Macra noch 1400 Einwohner hatte und die Acciugai bis nach Turin und Milano lieferten.
„Die Jungen hatten immer einen älteren, erfahrenen Acciugaio dabei, der mit einem Holzstäbchen die unteren Schichten kontrollierte, wo die Fischverkäufer an der Küste gerne verdorbene Ware versteckten.“Marilena schmunzelt. Sie weist auf ein großes Fischernetz und eine Lampe zwischen den Fässern und Gerätschaften hin, Geschenk eines sizilianischen Besuchers, und zeigt die vielen historischen Fotos, auf denen sich junge Männer stolz neben ihren schwer beladenen Karren in Positur werfen. Einer davon ist ihr Vater Giacomo Bonetto.
Gute zwei Autostunden vom Val Maira entfernt, in der Provinz Alessandria, hat der kleine Fisch auch das Leben von Roberto Santopietro geprägt. Nach mehreren Jahren an der ligurischen Küste als Betreiber zweier Hotels und eines Sternerestaurants hat der junge Piemonteser gelernt, Sardellen zuzubereiten. Er
lacht, wenn er daran zurückdenkt: „Wer Koch werden wollte, dem hat der Küchenchef erst einmal gesagt, da, putz Sardellen!“Ende der 1970er verkaufte man die Fische zu
umgerechnet 50 Cent pro Kiste von sieben Kilo. Die einst minderwertigen Fische zum Schleuderpreis sind mittlerweile zur Delikatesse geworden. Und wie so oft im Leben kommt es auch hier auf die Qualität an.
Der junge Roberto erinnert sich an die farbenfroh gefüllten Einmachgläser seiner Nonna, die hübsch aufgereiht in den „Infernot“– den in Tuffstein geschlagenen Weinkellern – standen, und beschließt, nach Vignale Monferrato zurückzukehren. Von da an
widmet er sich mithilfe des kleinen, schwarzen Rezeptbuchs seiner Nonna Palmira der hohen Kunst des Einlegens von Gemüse, Obst und natürlich auch Sardellen. Seine Schraubgläser mit dem köstlichen Inhalt, von Sugo bis Mostarda, von Marmelade bis Artischockencreme, stehen
heute in den besten Delikatessenläden Europas, ein Drittel seines Umsatzes macht er mit Sardellen. Über diese Fische kann man bei ihm noch etwas lernen, etwa, dass die ganz kleinen gar nicht unbedingt die besten sind, sondern die größeren Exemplare besser reifen. Oder, dass die besten Sardinen aus dem kühlen Wasser Kantabriens kommen, dass die Spanier dort klug sind und die Schonzeiten der
Fische respektieren, und wie man erkennt, ob die Kühlkette eingehalten wurde. Wer sich auf die Spuren der Acciugai
begeben möchte, den schickt Roberto nach Asti, zum samstäglichen Wochenmarkt.
Roberto ist, wie auch sein Bruder Carlo, der in Vignale Monferrato ausgezeichnete Weine macht und einen Agriturismo betreibt, ein Tüftler und Feinschmecker, immer zu schmackhaften Experimenten aufgelegt und Wegbegleiter der ersten Stunde des Slow-Food-Gründers Carlo Petrini. Letzterer ist auch der Grund, warum an einen bestimmten Klassiker bis heute nicht gerührt wird: die von Petrini
geliebten, mit Sardellen und Kapern gefüllten Kirschpfefferoni. Roberto grinst. „Er hat immer gesagt, das ist das piemontesische Viagra.“
Viele Besucher kommen jedes Jahr aus der ganzen Welt ins Piemont, zum Wandern und Radfahren, aber auch wegen der Weine – von Barbera über Nebbiolo bis hin zu Raritäten wie Carlo Santopietros leichtfüßigem Rotwein Grignolino –, wegen der feinen Küche und der erstklassigen Zutaten, nach Bra, nach Alba, nach Asti, aber eben auch in die Region von Monferrato mit ihrem welligen Horizont und den malerischen, steinernen Städtchen auf den Hügelkuppen.
Die Sardelle ist in der ganzen Region heute omnipräsent, nicht zuletzt in einem der Lieblingsgerichte
der Piemonteser, der „bagna càoda“oder auch „bagna cauda“: frischem Gemüse mit einer warmen Sauce aus Sardellen, Öl und Knoblauch. Das sei eine klassische Methode, schon etwas ältere Sardellen sehr schmackhaft zu verwerten. „Ein Gericht zum Verlieben“, schwärmt Roberto Santopietro. „Das kennt man ja vom Knoblauch, wenn den einer isst, dann muss ihn der andere auch essen.“Der Meister der Konserve selbst setzt auf Einfachheit. Er isst die Sardelle am liebsten pur, mit Butter und Brot.