Dawei, dawei!
Ich habe einen neuen Roman geschrieben. Er erscheint genau jetzt. Der Held heißt Maksym und das Buch ist nach ihm benannt. Maksym ist Ukrainer und im Roman der Babysitter meines kleinen Sohnes. Als ich den Roman geschrieben habe, hatte „Ukrainer“
noch eine andere Bedeutung als heute. Der Krieg war noch weit entfernt. Als ich das Buch schrieb, lagen die Menschen noch in Odessa am Strand oder badeten im Dnepr,
machten ein Picknick in einem Wald oder ernteten Getreide auf den unendlich großen
Feldern der Kornkammer Europas. Mein Maksym ist ein Held, aber nicht im soldatischen Sinn. Wie merkwürdig, dass wir heute
wieder täglich Kriegsberichterstattung lesen. Dass ich mir wünsche, schweres Kriegsgerät
würde endlich geliefert werden, damit sich die Ukrainer wehren können. Dass ich das einmal denken würde, verzeihe ich Putin nicht. Ich hatte gedacht, zumindest in Europa seien picknickende, schwimmende oder erntende Menschen im Sommer festgeschriebene Normalität. Oder dass ein Ukrainer als Babysitter in einem Roman auftaucht – und nicht ausschließlich als Mann mit Stahlhelm. Man sagt jetzt, meine Generation sei naiv gewesen. Hätte gedacht, dass niemand mehr so dumm sei, Kriege zu führen. Dass ja wohl klar sei, dass in Zeiten von
Erasmus und EU die Welt so global geworden sei, dass alle begreifen, dass der Klimawandel der gemeinsame Feind ist und Grenzen dem Klima wurscht sind. Dass, dass, dass und dann das.
Meine Mutter war ein kleines Mädchen am Ende des letzten Krieges. Ihr steigen
jetzt wieder viele Erinnerungen hoch. Das „Dawei, dawei“der russischen Soldaten.
Schnell, schnell. Für mich war das immer eine Geschichte, die meine Mutter von früher erzählt. Jetzt traf ich eine Ukrainerin, die
vom „Dawei, dawei“sprach. Von russischen Soldaten, die ihre Waschmaschine aus dem Haus stahlen und auf einen Lastwagen warfen. So also sieht die Befreiung aus, von der der Kreml spricht. Tausende Haushaltsgeräte, die gestohlen und nach Russland gebracht werden. Und sie selbst und ihre Tochter hatten das alte Wasser aus der Heizung getrunken, weil sie sonst verdurstet wären.
Wer ungefragt „befreit“wird, ahnt schon, was passiert. Was auf ihn zukommt.
Und unterdessen brechen die Gletscherspitzen ab und in Portugal und Spanien ist es so trocken wie seit 2000 Jahren nicht
mehr. Hungersnöte werden verkündet, weil das Getreide nicht geliefert werden kann
und die Ernte teilweise vernichtet wurde. Inflation, Rezession, die Aussicht, im Winter zu frieren. Aber der klein gewachsene
Ras-Putin spielt lieber auf der Stalin-Orgel, als sich um wirklich Existenzielles zu kümmern. Dabei wirkt seine Gesichtshaut immer mehr wie Pergament. Pergament statt Pigment.
Der Ukrainer in meinem Roman „Maksym“kümmert sich um meinen Sohn, aber im Laufe der Geschichte auch immer mehr
um mich. Dem Buch ist ein ukrainischer Segen vorangestellt: „Mögen deine Probleme unlösbar und deine Schwierigkeiten unüberwindlich sein.“
Diesem Segen folgt ein Zitat von Hölderlin: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“
Ich wünschte, Hölderlin hätte recht. Doch im Moment wirkt alles eher unlösbar und unüberwindlich.
Hilft Humor? Vielleicht. Vor allem hilft Menschlichkeit. Die ist oberste „Maksym“.
Liebe Russinnen und Russen: Fangt damit an. Dawei, dawei!
Dirk Stermann