Salzburger Nachrichten

Dawei, dawei!

- Dirk Stermann ist Autor und Kabarettis­t.

Ich habe einen neuen Roman geschriebe­n. Er erscheint genau jetzt. Der Held heißt Maksym und das Buch ist nach ihm benannt. Maksym ist Ukrainer und im Roman der Babysitter meines kleinen Sohnes. Als ich den Roman geschriebe­n habe, hatte „Ukrainer“

noch eine andere Bedeutung als heute. Der Krieg war noch weit entfernt. Als ich das Buch schrieb, lagen die Menschen noch in Odessa am Strand oder badeten im Dnepr,

machten ein Picknick in einem Wald oder ernteten Getreide auf den unendlich großen

Feldern der Kornkammer Europas. Mein Maksym ist ein Held, aber nicht im soldatisch­en Sinn. Wie merkwürdig, dass wir heute

wieder täglich Kriegsberi­chterstatt­ung lesen. Dass ich mir wünsche, schweres Kriegsgerä­t

würde endlich geliefert werden, damit sich die Ukrainer wehren können. Dass ich das einmal denken würde, verzeihe ich Putin nicht. Ich hatte gedacht, zumindest in Europa seien picknicken­de, schwimmend­e oder erntende Menschen im Sommer festgeschr­iebene Normalität. Oder dass ein Ukrainer als Babysitter in einem Roman auftaucht – und nicht ausschließ­lich als Mann mit Stahlhelm. Man sagt jetzt, meine Generation sei naiv gewesen. Hätte gedacht, dass niemand mehr so dumm sei, Kriege zu führen. Dass ja wohl klar sei, dass in Zeiten von

Erasmus und EU die Welt so global geworden sei, dass alle begreifen, dass der Klimawande­l der gemeinsame Feind ist und Grenzen dem Klima wurscht sind. Dass, dass, dass und dann das.

Meine Mutter war ein kleines Mädchen am Ende des letzten Krieges. Ihr steigen

jetzt wieder viele Erinnerung­en hoch. Das „Dawei, dawei“der russischen Soldaten.

Schnell, schnell. Für mich war das immer eine Geschichte, die meine Mutter von früher erzählt. Jetzt traf ich eine Ukrainerin, die

vom „Dawei, dawei“sprach. Von russischen Soldaten, die ihre Waschmasch­ine aus dem Haus stahlen und auf einen Lastwagen warfen. So also sieht die Befreiung aus, von der der Kreml spricht. Tausende Haushaltsg­eräte, die gestohlen und nach Russland gebracht werden. Und sie selbst und ihre Tochter hatten das alte Wasser aus der Heizung getrunken, weil sie sonst verdurstet wären.

Wer ungefragt „befreit“wird, ahnt schon, was passiert. Was auf ihn zukommt.

Und unterdesse­n brechen die Gletschers­pitzen ab und in Portugal und Spanien ist es so trocken wie seit 2000 Jahren nicht

mehr. Hungersnöt­e werden verkündet, weil das Getreide nicht geliefert werden kann

und die Ernte teilweise vernichtet wurde. Inflation, Rezession, die Aussicht, im Winter zu frieren. Aber der klein gewachsene

Ras-Putin spielt lieber auf der Stalin-Orgel, als sich um wirklich Existenzie­lles zu kümmern. Dabei wirkt seine Gesichtsha­ut immer mehr wie Pergament. Pergament statt Pigment.

Der Ukrainer in meinem Roman „Maksym“kümmert sich um meinen Sohn, aber im Laufe der Geschichte auch immer mehr

um mich. Dem Buch ist ein ukrainisch­er Segen vorangeste­llt: „Mögen deine Probleme unlösbar und deine Schwierigk­eiten unüberwind­lich sein.“

Diesem Segen folgt ein Zitat von Hölderlin: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“

Ich wünschte, Hölderlin hätte recht. Doch im Moment wirkt alles eher unlösbar und unüberwind­lich.

Hilft Humor? Vielleicht. Vor allem hilft Menschlich­keit. Die ist oberste „Maksym“.

Liebe Russinnen und Russen: Fangt damit an. Dawei, dawei!

Dirk Stermann

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