Die Schlagzeilen des nächsten Tages
Politiker sollten sich nicht nach Umfragen, sondern nach ihrer Bewertung in künftigen Geschichtsbüchern richten. Doch leider: Damit gewinnt man keine Wahlen.
„Besonders wichtig“, so äußert sich der bald 100-jährige Henry Kissinger in seinem neuen 600-Seiten-Werk „Staatskunst“. „Besonders
wichtig ist staatsmännische Führung in Übergangszeiten, wenn Werte und Institutionen ihre Bedeutung verlieren und die Umrisse einer
lebenswerten Zukunft umstritten sind.“Also im Grunde: genau jetzt. „In solchen Zeiten sind Führungsfiguren aufgerufen, kreativ und diagnostisch zu denken“, schreibt der legendäre amerikanische Spitzendiplomat, Ex-Außenminister und ehemalige Harvard-Professor weiter.
Nun liegt es im Auge der Betrachterin oder des Betrachters, wie weit sie oder er das heimische politische Spitzenpersonal für in der Lage hält, „kreativ und diagnostisch“zu denken. Ein
Anhänger der Regierungsparteien wird darüber anderer Ansicht sein als ein Oppositionswähler. Dessen ungeachtet ist die Analyse, die Kissinger in der Einleitung seines Buchs vornimmt, von bestechender Aktualität und wie zugeschnitten auf die jetzigen Zeitläufte.
„Führungsfiguren müssen oft anhand von Intuitionen und noch nicht überprüfbaren Hypothesen entscheiden“, schreibt Kissinger beispielsweise. Davon kann Gesundheitsminister Johannes Rauch ein Lied singen. Kein Mensch
weiß, wie heftig das Coronavirus im Herbst und Winter zuschlagen wird. Aber jedermann erwartet vom Minister, dass er bereits heute die richtige Entscheidung trifft. Da gehört jede Menge Intuition dazu – und ebenso viel Bereitschaft, die Expertenkritik, die dem Minister
wahlweise von der einen oder aber von der anderen Seite entgegenschallt, wegzustecken.
Strategische Führung sei „ein Seiltanz“, schreibt Kissinger zu Recht.
Interessant ist auch die folgende Beobachtung des Mannes, der die Außenpolitik von
US-Präsident Richard Nixon prägte (und im Nixon-Kapitel seines Buchs dessen kriminelle Machenschaften bedauerlicherweise völlig ausblendet): Der Entscheidungsspielraum politischer Führungsfiguren sei dann am größten, „wenn die relevanten Informationen noch sehr
knapp sind. Sobald mehr Daten zur Verfügung stehen, hat sich der Spielraum meist schon
verengt.“Dies führt direkt in die ersten Wochen der Pandemie, in denen die Bundesregierung, ohne sich auf relevante Informationen stützen zu können (denn die gab es damals
noch nicht), weitestreichende Entscheidungen traf: Lockdown, Ausgangssperren, geschlossene Bildungsstätten, Verbot von Familienfeiern. Die Zustimmung der Menschen zu diesen von der Regierung im Blindflug beschlossenen, fast diktatorischen
Maßnahmen war so groß, dass die ÖVP damals in Umfragen an der absoluten Mehrheit kratzte. Seit es hingegen jede Menge relevanter Informationen über die Seuche gibt,
legt die Öffentlichkeit noch die kleinste Maßnahme der Regierung auf die Goldwaage, sodass die vergleichsweise harmlose Frage, wer
wann wo eine Maske tragen muss, zum politischen Megathema wird. Selbst schuld, könnte
man den Politikern zurufen, denn, um ein letztes Mal Kissinger zu zitieren: „Gute Anführer
wecken in ihrer Bevölkerung den Wunsch, Seite an Seite mit ihnen zu gehen.“Man will ja
Wut als Mittel der politischen Auseinandersetzung
nicht verallgemeinern, aber österreichische Politiker erwecken viel zu oft den Eindruck, sich lieber nach Umfragen zu richten. Anstatt, wie es echter Staatskunst entspräche, durch politische Überzeugungskraft die Menschen für staatswichtige Projekte zu begeistern.
Natürlich hat ein fast Hundertjähriger, dessen politische Großtaten ebenso weit zurückliegen wie seine politischen Sünden, leicht reden, wenn er den heutigen politischen Führern
gute Ratschläge gibt. Faktum ist, dass auch zu seiner Zeit einiges schieflief. Der von Kissinger
beratene (und heute noch verherrlichte) Präsident Nixon hatte einige bedeutsame und richtungweisende Entscheidungen in der Außenpolitik getroffen, gleichzeitig aber in seinem eigenen Land einen Trümmerhaufen hinterlassen, Stichwort: Watergate. Dagegen sind die diversen ÖVP-Affären ein Kindergeburtstag.
Dennoch kann aus Kissingers jüngsten in Buchform vorliegenden Betrachtungen eine Lektion gelernt werden: Wesentlich ist nicht,
wie die Schlagzeilen des nächsten Tages, die Twitteria und die Meinungsumfragen politisches Handeln beurteilen. Wichtig ist, was dereinst in den Geschichtsbüchern stehen wird. Doch leider: Wahlen gewinnt man selten mit
künftigen Geschichtsbüchern. Sondern mit den Schlagzeilen des nächsten Tages, dem
Wohlwollen der Twitteria und dem Schielen nach den Umfragen.
Und so sei (nun aber wirklich!) ein allerletztes Mal Henry Kissinger zitiert: „Wut hat den Dialog als Mittel der Auseinandersetzung abgelöst, und aus Uneinigkeit ist ein Kampf der Kulturen entstanden.“Kissinger meint damit die Verhältnisse in den USA im Gefolge des Vietnamkriegs.
Wäre interessant, was er zu den Zuständen auf Twitter und ähnlich gelagerten Plattformen
zu sagen hat.