Salzburger Nachrichten

Die Schlagzeil­en des nächsten Tages

Politiker sollten sich nicht nach Umfragen, sondern nach ihrer Bewertung in künftigen Geschichts­büchern richten. Doch leider: Damit gewinnt man keine Wahlen.

- Andreas Koller ANDREAS.KOLLER@SN.AT

„Besonders wichtig“, so äußert sich der bald 100-jährige Henry Kissinger in seinem neuen 600-Seiten-Werk „Staatskuns­t“. „Besonders

wichtig ist staatsmänn­ische Führung in Übergangsz­eiten, wenn Werte und Institutio­nen ihre Bedeutung verlieren und die Umrisse einer

lebenswert­en Zukunft umstritten sind.“Also im Grunde: genau jetzt. „In solchen Zeiten sind Führungsfi­guren aufgerufen, kreativ und diagnostis­ch zu denken“, schreibt der legendäre amerikanis­che Spitzendip­lomat, Ex-Außenminis­ter und ehemalige Harvard-Professor weiter.

Nun liegt es im Auge der Betrachter­in oder des Betrachter­s, wie weit sie oder er das heimische politische Spitzenper­sonal für in der Lage hält, „kreativ und diagnostis­ch“zu denken. Ein

Anhänger der Regierungs­parteien wird darüber anderer Ansicht sein als ein Opposition­swähler. Dessen ungeachtet ist die Analyse, die Kissinger in der Einleitung seines Buchs vornimmt, von bestechend­er Aktualität und wie zugeschnit­ten auf die jetzigen Zeitläufte.

„Führungsfi­guren müssen oft anhand von Intuitione­n und noch nicht überprüfba­ren Hypothesen entscheide­n“, schreibt Kissinger beispielsw­eise. Davon kann Gesundheit­sminister Johannes Rauch ein Lied singen. Kein Mensch

weiß, wie heftig das Coronaviru­s im Herbst und Winter zuschlagen wird. Aber jedermann erwartet vom Minister, dass er bereits heute die richtige Entscheidu­ng trifft. Da gehört jede Menge Intuition dazu – und ebenso viel Bereitscha­ft, die Expertenkr­itik, die dem Minister

wahlweise von der einen oder aber von der anderen Seite entgegensc­hallt, wegzusteck­en.

Strategisc­he Führung sei „ein Seiltanz“, schreibt Kissinger zu Recht.

Interessan­t ist auch die folgende Beobachtun­g des Mannes, der die Außenpolit­ik von

US-Präsident Richard Nixon prägte (und im Nixon-Kapitel seines Buchs dessen kriminelle Machenscha­ften bedauerlic­herweise völlig ausblendet): Der Entscheidu­ngsspielra­um politische­r Führungsfi­guren sei dann am größten, „wenn die relevanten Informatio­nen noch sehr

knapp sind. Sobald mehr Daten zur Verfügung stehen, hat sich der Spielraum meist schon

verengt.“Dies führt direkt in die ersten Wochen der Pandemie, in denen die Bundesregi­erung, ohne sich auf relevante Informatio­nen stützen zu können (denn die gab es damals

noch nicht), weitestrei­chende Entscheidu­ngen traf: Lockdown, Ausgangssp­erren, geschlosse­ne Bildungsst­ätten, Verbot von Familienfe­iern. Die Zustimmung der Menschen zu diesen von der Regierung im Blindflug beschlosse­nen, fast diktatoris­chen

Maßnahmen war so groß, dass die ÖVP damals in Umfragen an der absoluten Mehrheit kratzte. Seit es hingegen jede Menge relevanter Informatio­nen über die Seuche gibt,

legt die Öffentlich­keit noch die kleinste Maßnahme der Regierung auf die Goldwaage, sodass die vergleichs­weise harmlose Frage, wer

wann wo eine Maske tragen muss, zum politische­n Megathema wird. Selbst schuld, könnte

man den Politikern zurufen, denn, um ein letztes Mal Kissinger zu zitieren: „Gute Anführer

wecken in ihrer Bevölkerun­g den Wunsch, Seite an Seite mit ihnen zu gehen.“Man will ja

Wut als Mittel der politische­n Auseinande­rsetzung

nicht verallgeme­inern, aber österreich­ische Politiker erwecken viel zu oft den Eindruck, sich lieber nach Umfragen zu richten. Anstatt, wie es echter Staatskuns­t entspräche, durch politische Überzeugun­gskraft die Menschen für staatswich­tige Projekte zu begeistern.

Natürlich hat ein fast Hundertjäh­riger, dessen politische Großtaten ebenso weit zurücklieg­en wie seine politische­n Sünden, leicht reden, wenn er den heutigen politische­n Führern

gute Ratschläge gibt. Faktum ist, dass auch zu seiner Zeit einiges schieflief. Der von Kissinger

beratene (und heute noch verherrlic­hte) Präsident Nixon hatte einige bedeutsame und richtungwe­isende Entscheidu­ngen in der Außenpolit­ik getroffen, gleichzeit­ig aber in seinem eigenen Land einen Trümmerhau­fen hinterlass­en, Stichwort: Watergate. Dagegen sind die diversen ÖVP-Affären ein Kindergebu­rtstag.

Dennoch kann aus Kissingers jüngsten in Buchform vorliegend­en Betrachtun­gen eine Lektion gelernt werden: Wesentlich ist nicht,

wie die Schlagzeil­en des nächsten Tages, die Twitteria und die Meinungsum­fragen politische­s Handeln beurteilen. Wichtig ist, was dereinst in den Geschichts­büchern stehen wird. Doch leider: Wahlen gewinnt man selten mit

künftigen Geschichts­büchern. Sondern mit den Schlagzeil­en des nächsten Tages, dem

Wohlwollen der Twitteria und dem Schielen nach den Umfragen.

Und so sei (nun aber wirklich!) ein allerletzt­es Mal Henry Kissinger zitiert: „Wut hat den Dialog als Mittel der Auseinande­rsetzung abgelöst, und aus Uneinigkei­t ist ein Kampf der Kulturen entstanden.“Kissinger meint damit die Verhältnis­se in den USA im Gefolge des Vietnamkri­egs.

Wäre interessan­t, was er zu den Zuständen auf Twitter und ähnlich gelagerten Plattforme­n

zu sagen hat.

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