Ein Oktopus schwimmt nur ungern allein
Vier grandiose Darsteller spielen sich in „Verrückt nach Trost“bei den Salzburger Festspielen um den Verstand.
SALZBURG. Ursina Lardi streckt Arme und Beine angewinkelt in die Höhe, während sie sich auf einer
riesengroßen Metallröhre räkelt. „Ich muss bei null anfangen, kann nichts an meine Kinder weitergeben, sie nicht beschützen oder vor Leid bewahren“, sagt sie. Als Oktopus sei sie Einzelgängerin und seit je allein. Der Vater stirbt bereits nach der Zeugung, die Mutter direkt nach der Geburt. Sie schmiegt sich eng an den Taucher heran. Beide sind einsam, dürsten nach Nähe.
Von Beginn an ist bei der Premiere von „Verrückt nach Trost“am Samstagabend in der Universität Mozarteum klar, dass hier ein eingespieltes Team zu Gange ist. Seit 20 Jahren arbeitet Regisseur Thorsten Lensing zum Teil mit Ursina Lardi, André Jung, Devid Striesow
und Sebastian Blomberg als Schauspielquartett zusammen. Nach Inszenierungen von Dostojewskis „Brüder Karamasow“oder „Unendlicher Spaß“von David Foster Wallace ist „Verrückt nach Trost“das erste Werk, das der Regisseur auch selbst verfasst und nun bei den Salzburger Festspielen zur Uraufführung gebracht hat.
Wenn Festspielstammgast André Jung als Orang-Utan an seinen Fingern knabbert und Sebastian Blomberg als Schildkröte mit einer Plastikbox auf dem Rücken in behäbig langsamem Tempo über die Bühne kriecht, während Striesow und Lardi die Kinder Charlotte und Felix geben, die ihre verstorbenen Eltern nachahmen, klingt das nach einer
Farce. Doch das Stück gelingt im Spiel. Lensings Produktionen sind dafür bekannt, gelöst vom klassischen Theaterbetrieb ein „Schauspiel der Schauspielenden zu sein“.
Und das zelebriert er auch in diesem Werk. Als sei es ein Wettbewerb, wer die noch banalere, irrwitzigere Szene famoser darstellen
kann. Der Haupthandlungsstrang, die Geschichte der Waisen Charlotte und Felix, wird von Traumsequenzen, Zeitsprüngen und Verwandlungen der vier Darsteller in Mensch- wie Tierrollen gebrochen.
Devid Striesow etwa spielt ungemein glaubhaft einen erregten Elfjährigen wie auch ein quengelndes Baby, das im Badehandtuch mit Kapuze am Boden liegt. Man vergisst
beinahe, dass hier ein erwachsener Mann auf der Bühne steht, bis er im zweiten Teil den gealterten Felix
gibt, der nichts mehr spürt, wenn sein Partner ihn berührt.
Sebastian Blomberg erntet zahlreiche Lacher, als er im Taucheranzug, durch die Sauerstoffflasche atmend, torkelnd, weil er zu lange unter Wasser gewesen ist, die Bühne
betritt. Auch als er das Gedicht „Kühe am Schlachttag“vorträgt, hängt man gebannt an seinen Lippen.
Jene, die sich auf das Spiel einlassen, können dreieinhalb Stunden
lang gespannt sein, was als Nächstes passiert. Wer jedoch nach einer stringenten Handlung sucht, wird enttäuscht. In dem Stück werden
keine Fragen aufgeworfen oder beantwortet, auch mit moralisierenden Momenten wird gespart. Vielmehr setzen sich im Laufe des Geschehens Puzzleteile zusammen,
denen die Überforderung der Menschen in der Vereinsamung und ihre
Sehnsucht nach Nähe, physisch wie seelisch, sowie nach Glück zugrunde liegen. „Wenn wir glücklich sind, sind wir alle Verrückte“, heißt es da
gleich zwei Mal. Im Text von Lensing entpuppen sich Licht wie
Schatten: So sind starke Aussagen enthalten, etwa wenn Blomberg als
Taucher sagt: „Ich habe der Welt nichts mehr zu sagen, daher reime ich und spreche mit ihr in fünffüßigen Jamben.“An anderen Stellen müsste nachgeschärft werden,
wenn sich die Figuren in platten Tautologien verlieren: „Ich wäre
gern ein Stuhl, dann könnte ich jemandem Halt geben.“
Letztlich verschmelzen die Figuren miteinander. So ist der Oktopus, der sich als „Einsiedler“bezeichnet, kaum von der gealterten, ebenso
verwaisten Charlotte zu unterscheiden, die ihren 88. Geburtstag mit ihrem Pflegeroboter feiert. „Ich vergesse manchmal, dass du ein Roboter bist“, sagt sie. „Ich auch“, erwidert er, gespielt von André Jung.
Die Schweizerin Ursina Lardi, die bei den Salzburger Festspielen 2020 in Milo Raus Inszenierung „Everywoman“eine sensible Weitererzählung des „Jedermann“Stoffs im Hinblick auf den einsamen Tod gegeben hat, schafft es,
punktgenau zwischen Komik und Ernsthaftigkeit zu jonglieren.
Zum Schluss jodeln sie und Jung, stimmen das Lied „God Save the
Queen“an und animieren das Publikum zum Mitsingen. Der Zuschauerraum ist dabei ausgeleuchtet; die Röhre, die während des Stücks die von Gordian Blumenthal
und Ramun Capaul konzipierte Bühne geteilt hat, rollt langsam und
bedrohlich nach vorn. Die Betroffenheit, die im Saal erzeugt werden
will, ist wenig subtil. „Jemand hier riecht nach Angst, jemand hier hat ein gebrochenes Herz“, sagt Lardi. „Alle werden erlöst.“Dieses pathetische Ende hätte der Abend nicht gebraucht, der ansonsten in den kleinen, präzise ausgespielten und humorvollen Dialogen überzeugt hat.
Nach der Pause blieben bei der Premiere einige wenige Sitze im Publikum leer. Der Großteil, der das Stück bis zum Schluss gesehen hat, schenkte tosenden Beifall mit vielen „Bravos“für ein spielerisch meisterhaftes Vierergespann und eine erfrischend mutige Regie.
Darsteller spielen Mensch und Tier
Schauspiel: „Verrückt nach Trost“,
Thorsten Lensing, Universität Mozarteum, Salzburger Festspiele, bis 17.
August.