Herr über das Gewitter der Hingabe
Gut, dass Nick Cave daran erinnert, dass man Luft holen muss, denn es stockt einem der Atem: Besuch bei einem Gottesdienst auf Burg Clam, dessen poetische Liturgie gebaut ist aus betörender Nachdenklichkeit und heiligem Lärm.
KLAM. Allein sitzt Nick Cave nach
gut zwei Stunden am Klavier. „I don’t believe in the existence of angels, but looking at you, I wonder if that’s true.“Den Zweifel am eigenen Glauben nähren, das kann sie, die
Liebe. Alles fragil. Dementsprechend vorsichtig, wie die Liebenden
im Lied zueinanderkriechen, stimmt das Publikum unter der Burg Clam ein: „Into my arms, oh Lord.“Andere enden mit so einer Zugabe. Cave, der noch fünf weitere Zugaben spielen wird, zieht Tempo
und Intensität noch einmal an. „And step into the vortex where you
belong“, sagt er. Noch einmal ein Moment wie beim Gospel-Gottesdienst: gemeinschaftliche Erhebung.
Nur ihre Hand wolle er halten, fleht Cave in dem Song, der „Vortex“heißt: aus schützender Zuneigung. Denn „Vortex“, zu Deutsch „Strudel“, wächst mit Liebe und
Hingabe. Dieser Wirbel dreht sich in den Abgrund aus Schmerz und Verlust. Einen überwältigenden Abend lang bleibt das so. Knapp drei Stunden, gebaut aus dynamischer Dialektik in Inhalt und Klang.
Alte, verzerrte Rockzerlegungen sind da. Cave wird in „From Her to
Eternity“oder in „Tupelo“, nicht gealterten Songs von Mitte der 1980er-Jahre, ein verzweifelt Suchender, winselnd und fluchend. Elegisch breite, elektronisch angereicherte Sanftheit beruhigt in „Waiting for You“oder „Bright Horses“als Erinnerung an verstorbene Seelen.
Stets wird das in Dosen verabreicht, bei denen keine Gefahr besteht, des heiligen Lärms, der stillen
Einkehr oder des erhebenden Gebets überdrüssig zu werden. Manchmal wirbelt es, manchmal
gleitet man in ruhigem Wasser. Brutalistischer Lärm kontrastiert die ins Predigthafte neigende Verklärung.
„Vortex“ist nicht bloß ein Strudel, ein Getümmel, in das man sich der Liebe oder eines Konzertes wegen stürzt. So heißt auch ein Inhalationsgerät. Es gibt Zufälle, die passen. Cave improvisiert ein paar Mal in Songs hinein ein „just breathe,
just breathe“. Und es kann einem der Atem stocken an diesem Abend.
Am Himmel wird die Sonne erwürgt. Der Vorstadtcasanova Voodoo Jürgens als Vorband – charmant und „glücklich, weil ich vor
vier Jahren noch da unten als Fan stand“– eröffnet und singt „Heite
grob ma Tote aus“. „Death is not the end“, wie Dylan lehrt. Das Leben
muss aber deshalb kein leichter Einstieg sein, wie Cave berichtet. Schwül ist es, und die schweren
Wolken kommen näher. Wer nur ein bisschen Ahnung von Caves
Werk hat, ahnt, wie wahr das mit dem Ausgraben der Toten oder den
Lebensuntiefen sein kann und welche Möglichkeiten sich daher wegen nahender Cumulusberge am Himmel auftun.
Eine Sonne, die es gibt, die aber nicht zu sehen ist; Blitze, die drohen, aber noch nicht zu sehen sind. Ein Donner wird rollen. Warten auf den Cave’schen Höllenkreis, auf satanische Ausbrüche und brüchigen Zweifel. Amen! Er kommt auf die Bühne, grüßt und explodiert. „Get Ready for Love“donnert los. Der 64 Jahre alte Australier bellt es. Er formuliert da keinen Wunsch, sondern ein Gesetz. Geschrieben wird es mit der Wucht seiner fabelhaften Band Bad Seeds. Souverän angeführt wird sie in jeder Gefühlslage von
Warren Ellis, der mit seinem Bart aussieht, wie man sich alttestamentarische Propheten vorstellt. Und
vorn steht ein Messias und Dandy und Rockstar und Poet, der – wütend, sehnsüchtig, besinnlich, zerfetzend – Schmerz und Erlösung, Bedacht und Furor gleichermaßen
verkörpert. Und der mit dem zweiten Song, in gleicher Gangart, aber
mit finsterem Unterton, nicht mehr die Liebe erwarten lässt, sondern
Aussichtslosigkeit prophezeit; „There She Goes, My Beautiful World.“
Die Liebe, für die wir uns bereit machen sollen, bekommt Risse. Es geht auch um Verlust und Abschied,
Versöhnung und Wut. Oft gleichzeitig. Wo es schmerzt, tut Heilung
not. Sie liegt im Blues, in poetischer
Inwendigkeit oder in lärmender
Überwältigung. Immer liegt alles eng beieinander, das Aussichtslose und das Erhoffte. Dass er in „I Need
You“den sterbenden Sohn anfleht, er solle doch weiteratmen, ist zum
Weinen traurig liebevoll. Um Erfüllung, gar Erlösung kann es nie gehen, wenn stets das Ende mitschwingt. Die Liebe begegnet Cave dennoch – vor der Bühne.
Die Euphorie, in der ihm Hände entgegengestreckt werden, ist nicht einseitig. Cave steht – der Hitze wegen im Zwei- statt im üblichen Dreiteiler – meistens ganz vorn an der Rampe. Hände stützen ihn, wenn er sich gefährlich weit über die Köpfe in der ersten Reihe beugt. Er liebt
hingebungsvoll zurück, streichelt gütig, segnet mit einem Grinsen.
Weil er sich bedenkenlos verausgabt, stören bekannte Posen seiner Kunst als darstellender Rocklyriker nicht, um Nähe zu spüren. Eine Textzeile wie „I think my friends have gathered here for me“aus „Ghosteen Speaks“verhallt nicht als Geste. Was auf der Bühne und im Publikum passiert, steht nämlich schon im Song „Jubilee Street“geschrieben: „I’m transforming, I’m vibrating, I’m glowing, I’m flying“.
Alles fliegt, das brennende Herz und die schwarze Seele. Alles glüht, die Nachdenklichkeit und die schweißtreibende Aufregung. „And if you want to leave, don’t breathe a
word and let the world turn“, heißt es in „Girl In Amber“. Stumm also
geht man dann, doch es wirbelt nach. Die Wolken ziehen noch herum, kommen näher. Doch die Hitze steht noch im Burggraben. Das
Wetter hielt. Ein Gewitter, gewaltig und reinigend, war’s trotzdem.