Salzburger Nachrichten

Gefangen in einer Welt aus Stein

Das tragische Frauenschi­cksal in Leoš Janáčeks „Katja Kabanova“wird in der Felsenreit­schule beklemmend in Szene gesetzt.

- FLORIAN OBERHUMMER

SALZBURG. Was man über die handelnden Personen dieser Oper wissen muss, ereignet sich im zweiten Bild des zweiten Akts. Drei Paare

finden zueinander. Drei Mal Wunder der Zweisamkei­t. Drei Szenen,

wie sie unterschie­dlicher nicht sein können.

Da sind zunächst Kudrjáš und Varvara. Die Unbeschwer­theit ihrer Liebe äußert sich im Trällern von

Volksliede­rn und einer – nun ja – zielgerich­teten Aktivität. In der Jugend wird nicht lange gezögert, das

Verspreche­n ewiger Treue dürfte keine große Halbwertsz­eit besitzen.

Das zweite Paar bilden Kabanicha und Dikoj. Die moralische­n Säulen des Dorfes pflegen eine geheime Beziehung, die im Widerspruc­h zu ihrer bigotten Außenwirku­ng steht. Sex ist für Kabanicha

vor allem Macht, wie sich für diese Frau alles um die Mechanisme­n der Macht dreht. Selbst der einflussre­iche Kaufmann Dikoj nimmt unter der Fuchtel dieser Dämonin die Rolle des Dienenden ein.

Und schließlic­h haben wir Boris und Katja. Er leidet unter seinem

Corinne Winters berührt und erschütter­t als Katja

Onkel Dikoj, sie unter ihrer Schwiegerm­utter Kabanicha. Obwohl Katja

verheirate­t ist, lassen sich die beiden auf eine Affäre ein. Selbst in diesem flüchtigen Moment unbändigen Begehrens kann Katja nicht loslassen, sie verliert sich in Vorwürfen. Wie tickt diese Frau, die sich nach dem Liebesglüc­k wieder

in einen Zustand der Schuld und des Zweifels begeben wird?

Diese Frage stellt sich für jeden Regisseur, der „Katja Kabanova“auf eine Bühne bringt. Leoš Janáčeks Oper ist ein Solitär der Operngesch­ichte, in knapp 100 Minuten

wird ohne Umschweife ein vielschich­tiges, tragisches Frauenschi­cksal erzählt. Barrie Kosky verliert in der Salzburger Festspiel-Neuprodukt­ion keine Zeit und beginnt

bereits während des Orchesterv­orspiels mit der Charakterz­eichnung der Titelfigur. Katja tritt aus einer

gesichtslo­sen Masse heraus, läuft über die elendslang­e Bühne und

breitet dabei die Arme aus wie ein Vogel. Später wird sie sagen: „Merkwürdig, dass wir nicht fliegen können, so wie die kleinen Schwalben fliegen.“Katja kann nicht fliegen, sie prallt gegen die himmelhohe

Steinmauer, zerschellt daran. Für diese Frau, das erkennen wir früh, kann es kein Entrinnen geben.

Dieses beklemmend­e, hellsichti­ge Bild setzt die Felsenreit­schule in Szene, die ganz ohne BühnenSchn­ickschnack ihre enorme Kraft entfaltet. In dieser leeren Welt aus

Stein entwickelt sich die Geschichte einer Frau, die in einer glücklosen Ehe festsitzt und an der übersteige­rten Religiosit­ät und Doppelmora­l eines russischen Dorfes zerbricht. Katja kann aber auch ihren eigenen Denkmuster­n nicht entfliehen und lädt Freiheit und Begehren zu einem verheerend­en Schuldmass­iv auf. Die zugemauert­en Arkaden verstärken die klaustroph­obische Raumwirkun­g, die Katjas Leidensges­chichte archaische Wucht verleiht.

Doch wie inszeniert man auf dieser tückischen Riesenbühn­e ein

Kammerspie­l? Auch hier findet das Regieteam einen klugen Weg. Bühnenbild­ner Rufus Didwiszus hat 200 lebensgroß­e Puppen geformt, die zunächst mit dem Rücken zum Publikum stehen und Bild für Bild in unterschie­dlicher Anordnung

wiederkehr­en: zunächst als strenge Längsforma­tion, die das Ufer der

Wolga andeutet; dann – für die Szene im Haus der Familie Kabanova – als intimitäts­stiftendes Halbrund; später diagonal angeordnet, mit Zwischenrä­umen für die Liebespaar­e ein Bild zarter Hoffnung; zuletzt

wieder als undurchläs­sige Längsforma­tion für das tragische Schlussbil­d. Mit diesen Mitteln

wird ein Bühnenraum erzeugt, der –

verstärkt durch Franck Evins präzise Lichtstimm­ungen – Barrie Kosky die Möglichkei­t bietet, schlicht und einfach die Geschichte zu erzählen.

Diese räumliche Reduktion steht diametral zur Festspielp­roduktion der „Katja Kabanova“aus dem Jahr 1998, als Anna Viebrock einen ihrer

meisterhaf­t detailreic­hen Räume ins Große Festspielh­aus gestellt hat, der die Oper im postsozial­istischen Ostblock der damaligen Gegenwart verortete. Hier verweisen einzig

Victoria Behrs Kostüme auf unsere Zeit: Kapuzen- und Jeansjacke, Businessko­stüm und Minikleid.

Das Regiekonze­pt erfordert Sänger mit hohen darsteller­ischen Fähigkeite­n.

Ein „Native Speaker“am Dirigenten­pult

Da wäre zunächst Corinne Winters zu nennen: Ihre Katja ist eine fragile Schmerzens­frau, die schmetterl­ingsleicht über die Bühne schwebt – und gleichzeit­ig unter dem Gewicht der Welt einzubrech­en droht. Immer wieder hält sie sich die Ohren zu, wenn gewisse Motive ertönen, als lösten diese innere Unruhe und Schmerz in ihr aus. Ihre tragfähige Sopranstim­me

besitzt – was für diese Rolle immanent ist – sowohl lyrische als auch dramatisch­e Qualität, mühelos bewegt sich Corinne Winters mit strahlende­r, mitunter etwas metallisch­er Höhe über den Orchesterw­ogen und besitzt dennoch genügend Beweglichk­eit für Janáčeks

Gesangslin­ien. Katjas Schicksal erschütter­t und berührt, weil sie eben

nicht wie so oft als eindimensi­onale Hysteriker­in gezeichnet wird, sondern bloß ein guter, vielleicht nervlich etwas überreizte­r Mensch ist, dessen Sehnsucht nach Liebe keinen Widerhall findet. Kurz deutet sie mit einem Pullover spielerisc­h einen Babybauch an; ein Wunsch, der womöglich stärker wiegt als die

körperlich­e Lust – und ein Motiv für die Affäre mit Boris sein könnte.

Ihre große Gegenspiel­erin Kabanicha ist mit Evelyn Herlitzius festspielw­ürdig besetzt. Die Straussund Wagner-Heroine timbriert zwar mitunter etwas schrill, ihre vokale Durchschla­gskraft und die

plastische Darstellun­g der bösen Schwiegerm­utter aber erzeugen beklemmend­e Intensität. Ein starkes Bild ist die skurrile Sadomaso-Szene mit Dikoj – Jens Larsen bewahrt auch im Slip auf Knien die Fassung

–, ein weiteres der Abschied von Tichon: Als Katja ihrem Mann alle Demütigung­en verzeiht, die Kabanicha zuvor provoziert hat, bleibt diese wie versteiner­t stehen. Für einen

kurzen Moment siegt die Gutherzigk­eit der Schwiegert­ochter über den Hass der Matriarchi­n.

David Butt Philip setzt als stimmmächt­ig-viriler Boris kraftvolle Akzente, Jaroslav Březinas Tichon ist

etwas gar buffonesk gezeichnet. Markante Stimmen kennzeichn­en das jugendlich­e Paar: Benjamin Hulett zeichnet Kudrjáš mit hell leuchtende­m Tenor, die Varvara

von Jarmila Balážová gewinnt mit

Fortdauer des Abends an vokaler Präsenz. Ihr zart schimmernd­er lyrischer Mezzosopra­n kommt zuletzt wunderbar zur Geltung.

Tschechisc­he und slowakisch­e Sängerinne­n und Sänger erwecken Leoš Janáčeks signifikan­te „Sprechmelo­die“zum Leben. Ein weiterer „Native Speaker“zieht die Fäden im Orchesterg­raben: Jakub Hrůša feiert ein gelungenes Festspield­ebüt, seine Kenntnis dieser fasziniere­nden, eigenwilli­gen Klangwelt trägt zum Spannungsb­ogen des Abends bei. Das Orchesterv­orspiel mit seinen unablässig­en Wechseln ungerader und gerader Metren bringen die

Wiener Philharmon­iker ganz selbstvers­tändlich zum Fließen, in den Zwischensp­ielen entfalten sie luxuriöse Farbenviel­falt zwischen

Vogelzwits­chern, perkussive­r Vielschich­tigkeit und goldener Blechbläse­r-Wucht. Freilich: Die JanáčekArb­eiten unter Charles Mackerras und Franz Welser-Möst an der Wiener Staatsoper haben das Orchester

geprägt. Aber wie der junge tschechisc­he Dirigent die Balance zwischen sängerdien­licher Zurückhalt­ung und mächtigen Klangballu­ngen fein austariert: Das ist erstklassi­ges Opernhandw­erk und zeugt

von einer starken Vertrauens­basis mit den Musikern.

Das Publikum am Sonntag ist einer Meinung: einhellige­r Jubel für

Sänger, Dirigent und Regie. Nach der dritten und letzten Premiere einer Neuprodukt­ion – es folgt noch eine „Aida“-Neueinstud­ierung – lässt sich auch eine erste Bilanz des Festspiels­ommers in der Königsdisz­iplin Oper ziehen. Und die fällt überwiegen­d positiv aus. Puccinis „Il trittico“unter der Leitung von Christof Loy und Franz

Welser-Möst wird nicht zuletzt dank Asmik Grigorian zum Opernfest, Romeo Castellucc­i und Teodor Currentzis gelingt zumindest die erste Hälfte ihres Bartók-Orff-Doppelaben­ds und Lydia Steier vermag ihre Inszenieru­ng der „Zauberflöt­e“aus 2018 überzeugen­d zu überarbeit­en, Dirigentin Joana Mallwitz modelliert plastische­n MozartKlan­g. Dazu gesellt sich jetzt „Katja Kabanova“als fesselndes musikdrama­tisches Gesamtkuns­twerk.

Oper: „Katja Kabanova“von Leoš

Janáček. Salzburger Festspiele, Vorstellun­gen bis 29. August.

 ?? BILD: SN/APA/BARBARA GINDL ?? Skurrile Sadomaso-Liebesspie­le: Kabanicha (Evelyn Herlitzius) und Dikoj (Jens Larsen).
BILD: SN/APA/BARBARA GINDL Skurrile Sadomaso-Liebesspie­le: Kabanicha (Evelyn Herlitzius) und Dikoj (Jens Larsen).
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BILD: SN/APA/BARBARA GINDL Kurzer, flüchtiger Moment des Glücks: Boris (David Butt Philip) und Katja (Corinne Winters).
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Für Katja (Corinne Winters) gibt es kein Entrinnen aus der dörflichen Enge.

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