Gefangen in einer Welt aus Stein
Das tragische Frauenschicksal in Leoš Janáčeks „Katja Kabanova“wird in der Felsenreitschule beklemmend in Szene gesetzt.
SALZBURG. Was man über die handelnden Personen dieser Oper wissen muss, ereignet sich im zweiten Bild des zweiten Akts. Drei Paare
finden zueinander. Drei Mal Wunder der Zweisamkeit. Drei Szenen,
wie sie unterschiedlicher nicht sein können.
Da sind zunächst Kudrjáš und Varvara. Die Unbeschwertheit ihrer Liebe äußert sich im Trällern von
Volksliedern und einer – nun ja – zielgerichteten Aktivität. In der Jugend wird nicht lange gezögert, das
Versprechen ewiger Treue dürfte keine große Halbwertszeit besitzen.
Das zweite Paar bilden Kabanicha und Dikoj. Die moralischen Säulen des Dorfes pflegen eine geheime Beziehung, die im Widerspruch zu ihrer bigotten Außenwirkung steht. Sex ist für Kabanicha
vor allem Macht, wie sich für diese Frau alles um die Mechanismen der Macht dreht. Selbst der einflussreiche Kaufmann Dikoj nimmt unter der Fuchtel dieser Dämonin die Rolle des Dienenden ein.
Und schließlich haben wir Boris und Katja. Er leidet unter seinem
Corinne Winters berührt und erschüttert als Katja
Onkel Dikoj, sie unter ihrer Schwiegermutter Kabanicha. Obwohl Katja
verheiratet ist, lassen sich die beiden auf eine Affäre ein. Selbst in diesem flüchtigen Moment unbändigen Begehrens kann Katja nicht loslassen, sie verliert sich in Vorwürfen. Wie tickt diese Frau, die sich nach dem Liebesglück wieder
in einen Zustand der Schuld und des Zweifels begeben wird?
Diese Frage stellt sich für jeden Regisseur, der „Katja Kabanova“auf eine Bühne bringt. Leoš Janáčeks Oper ist ein Solitär der Operngeschichte, in knapp 100 Minuten
wird ohne Umschweife ein vielschichtiges, tragisches Frauenschicksal erzählt. Barrie Kosky verliert in der Salzburger Festspiel-Neuproduktion keine Zeit und beginnt
bereits während des Orchestervorspiels mit der Charakterzeichnung der Titelfigur. Katja tritt aus einer
gesichtslosen Masse heraus, läuft über die elendslange Bühne und
breitet dabei die Arme aus wie ein Vogel. Später wird sie sagen: „Merkwürdig, dass wir nicht fliegen können, so wie die kleinen Schwalben fliegen.“Katja kann nicht fliegen, sie prallt gegen die himmelhohe
Steinmauer, zerschellt daran. Für diese Frau, das erkennen wir früh, kann es kein Entrinnen geben.
Dieses beklemmende, hellsichtige Bild setzt die Felsenreitschule in Szene, die ganz ohne BühnenSchnickschnack ihre enorme Kraft entfaltet. In dieser leeren Welt aus
Stein entwickelt sich die Geschichte einer Frau, die in einer glücklosen Ehe festsitzt und an der übersteigerten Religiosität und Doppelmoral eines russischen Dorfes zerbricht. Katja kann aber auch ihren eigenen Denkmustern nicht entfliehen und lädt Freiheit und Begehren zu einem verheerenden Schuldmassiv auf. Die zugemauerten Arkaden verstärken die klaustrophobische Raumwirkung, die Katjas Leidensgeschichte archaische Wucht verleiht.
Doch wie inszeniert man auf dieser tückischen Riesenbühne ein
Kammerspiel? Auch hier findet das Regieteam einen klugen Weg. Bühnenbildner Rufus Didwiszus hat 200 lebensgroße Puppen geformt, die zunächst mit dem Rücken zum Publikum stehen und Bild für Bild in unterschiedlicher Anordnung
wiederkehren: zunächst als strenge Längsformation, die das Ufer der
Wolga andeutet; dann – für die Szene im Haus der Familie Kabanova – als intimitätsstiftendes Halbrund; später diagonal angeordnet, mit Zwischenräumen für die Liebespaare ein Bild zarter Hoffnung; zuletzt
wieder als undurchlässige Längsformation für das tragische Schlussbild. Mit diesen Mitteln
wird ein Bühnenraum erzeugt, der –
verstärkt durch Franck Evins präzise Lichtstimmungen – Barrie Kosky die Möglichkeit bietet, schlicht und einfach die Geschichte zu erzählen.
Diese räumliche Reduktion steht diametral zur Festspielproduktion der „Katja Kabanova“aus dem Jahr 1998, als Anna Viebrock einen ihrer
meisterhaft detailreichen Räume ins Große Festspielhaus gestellt hat, der die Oper im postsozialistischen Ostblock der damaligen Gegenwart verortete. Hier verweisen einzig
Victoria Behrs Kostüme auf unsere Zeit: Kapuzen- und Jeansjacke, Businesskostüm und Minikleid.
Das Regiekonzept erfordert Sänger mit hohen darstellerischen Fähigkeiten.
Ein „Native Speaker“am Dirigentenpult
Da wäre zunächst Corinne Winters zu nennen: Ihre Katja ist eine fragile Schmerzensfrau, die schmetterlingsleicht über die Bühne schwebt – und gleichzeitig unter dem Gewicht der Welt einzubrechen droht. Immer wieder hält sie sich die Ohren zu, wenn gewisse Motive ertönen, als lösten diese innere Unruhe und Schmerz in ihr aus. Ihre tragfähige Sopranstimme
besitzt – was für diese Rolle immanent ist – sowohl lyrische als auch dramatische Qualität, mühelos bewegt sich Corinne Winters mit strahlender, mitunter etwas metallischer Höhe über den Orchesterwogen und besitzt dennoch genügend Beweglichkeit für Janáčeks
Gesangslinien. Katjas Schicksal erschüttert und berührt, weil sie eben
nicht wie so oft als eindimensionale Hysterikerin gezeichnet wird, sondern bloß ein guter, vielleicht nervlich etwas überreizter Mensch ist, dessen Sehnsucht nach Liebe keinen Widerhall findet. Kurz deutet sie mit einem Pullover spielerisch einen Babybauch an; ein Wunsch, der womöglich stärker wiegt als die
körperliche Lust – und ein Motiv für die Affäre mit Boris sein könnte.
Ihre große Gegenspielerin Kabanicha ist mit Evelyn Herlitzius festspielwürdig besetzt. Die Straussund Wagner-Heroine timbriert zwar mitunter etwas schrill, ihre vokale Durchschlagskraft und die
plastische Darstellung der bösen Schwiegermutter aber erzeugen beklemmende Intensität. Ein starkes Bild ist die skurrile Sadomaso-Szene mit Dikoj – Jens Larsen bewahrt auch im Slip auf Knien die Fassung
–, ein weiteres der Abschied von Tichon: Als Katja ihrem Mann alle Demütigungen verzeiht, die Kabanicha zuvor provoziert hat, bleibt diese wie versteinert stehen. Für einen
kurzen Moment siegt die Gutherzigkeit der Schwiegertochter über den Hass der Matriarchin.
David Butt Philip setzt als stimmmächtig-viriler Boris kraftvolle Akzente, Jaroslav Březinas Tichon ist
etwas gar buffonesk gezeichnet. Markante Stimmen kennzeichnen das jugendliche Paar: Benjamin Hulett zeichnet Kudrjáš mit hell leuchtendem Tenor, die Varvara
von Jarmila Balážová gewinnt mit
Fortdauer des Abends an vokaler Präsenz. Ihr zart schimmernder lyrischer Mezzosopran kommt zuletzt wunderbar zur Geltung.
Tschechische und slowakische Sängerinnen und Sänger erwecken Leoš Janáčeks signifikante „Sprechmelodie“zum Leben. Ein weiterer „Native Speaker“zieht die Fäden im Orchestergraben: Jakub Hrůša feiert ein gelungenes Festspieldebüt, seine Kenntnis dieser faszinierenden, eigenwilligen Klangwelt trägt zum Spannungsbogen des Abends bei. Das Orchestervorspiel mit seinen unablässigen Wechseln ungerader und gerader Metren bringen die
Wiener Philharmoniker ganz selbstverständlich zum Fließen, in den Zwischenspielen entfalten sie luxuriöse Farbenvielfalt zwischen
Vogelzwitschern, perkussiver Vielschichtigkeit und goldener Blechbläser-Wucht. Freilich: Die JanáčekArbeiten unter Charles Mackerras und Franz Welser-Möst an der Wiener Staatsoper haben das Orchester
geprägt. Aber wie der junge tschechische Dirigent die Balance zwischen sängerdienlicher Zurückhaltung und mächtigen Klangballungen fein austariert: Das ist erstklassiges Opernhandwerk und zeugt
von einer starken Vertrauensbasis mit den Musikern.
Das Publikum am Sonntag ist einer Meinung: einhelliger Jubel für
Sänger, Dirigent und Regie. Nach der dritten und letzten Premiere einer Neuproduktion – es folgt noch eine „Aida“-Neueinstudierung – lässt sich auch eine erste Bilanz des Festspielsommers in der Königsdisziplin Oper ziehen. Und die fällt überwiegend positiv aus. Puccinis „Il trittico“unter der Leitung von Christof Loy und Franz
Welser-Möst wird nicht zuletzt dank Asmik Grigorian zum Opernfest, Romeo Castellucci und Teodor Currentzis gelingt zumindest die erste Hälfte ihres Bartók-Orff-Doppelabends und Lydia Steier vermag ihre Inszenierung der „Zauberflöte“aus 2018 überzeugend zu überarbeiten, Dirigentin Joana Mallwitz modelliert plastischen MozartKlang. Dazu gesellt sich jetzt „Katja Kabanova“als fesselndes musikdramatisches Gesamtkunstwerk.
Oper: „Katja Kabanova“von Leoš
Janáček. Salzburger Festspiele, Vorstellungen bis 29. August.