Wählen in ruppigen Zeiten
Van der Bellen gegen den Rest der Welt: Auf dem Stimmzettel für die Bundespräsidentschaftswahl ist viel Platz, um Wählerfrust abzuladen.
Sie sammeln also Unterstützungsunterschriften, um bei der Bundespräsidentschaftswahl antreten zu können, die Präsidentschaftskandidaten inklusive
Amtsinhaber Alexander Van der Bellen. Gut, dass sie dies tun müssen: Dem amtierenden und wieder kandidierenden Bundespräsidenten schadet es nicht, diesen Direktkontakt mit dem Wählervolk aufnehmen zu müssen. Und bei den übrigen Kandidaten dient die Notwendigkeit, die Hürde von 6000 Unterschriften überwinden zu müssen, der
Abwehr von Juxbewerbungen. Die Wahl ist zu wichtig, um jedem Bierzeltkandidaten ohne Weiteres den Sprung auf den Wahlzettel zu ermöglichen.
Präsidentschaftswahlen, bei denen sich das amtierende Staatsoberhaupt
ein zweites Mal den Wählern stellt, sind normalerweise von überschaubarer Spannung. Es gab bisher keinen Bundespräsidenten, dem das Wahlvolk den Wunsch nach einer zweiten Amtszeit versagt hätte. Wenn nicht alle Anzeichen trügen, wird das auch diesmal
nicht geschehen. Alexander Van der Bellen hat ausgezeichnete Chancen, am 9. Oktober als Staatsoberhaupt bestätigt zu werden. Und dennoch dürfte diese
Wahl viel spannender werden, als man noch vor Kurzem glaubte. Viele von Corona, Inflation und allgemeiner Krisenstimmung geplagte Mitbürgerinnen und
Mitbürger werden die Gelegenheit
nützen, dem Bundespräsidenten die Rechnung für die Politik der Bundesregierung auszustellen, sprich: ihm die Stimme zu verweigern. Mit Walter Rosenkranz finden frustrierte
Wähler auf der rechten Seite des Spektrums einen wählbaren Gegenkandidaten, mit Dominik Wlazny alias Marco Pogo einen auf der linken. Und auch extremere Systemgegner können sich dank der voraussichtlichen Kandidatur von MFGChef Michael Brunner und Dampfplauderer Gerald Grosz gut bedient fühlen. Auf dem Stimmzettel ist viel Platz, um Wählerfrust abzuladen.
Dabei war es ironischerweise Alexander Van der Bellen, der unter Beweis gestellt hat, dass es keineswegs egal ist, wer in der Präsidentschaftskanzlei sitzt. Die Ibiza-Krise und die darauffolgende Bestellung einer Expertenregierung lieferten den Beleg dafür, dass der Bundespräsident in
ruppigen Phasen der Zeitgeschichte einen sehr großen Handlungsspielraum hat. Kaum je in der jüngeren Geschichte waren die Zeiten so ruppig wie jetzt. Die Unterschriftensammler greifen nach einer großen
Verantwortung.