Salzburger Nachrichten

Wählen in ruppigen Zeiten

Van der Bellen gegen den Rest der Welt: Auf dem Stimmzette­l für die Bundespräs­identschaf­tswahl ist viel Platz, um Wählerfrus­t abzuladen.

- Andreas Koller ANDREAS.KOLLER@SN.AT

Sie sammeln also Unterstütz­ungsunters­chriften, um bei der Bundespräs­identschaf­tswahl antreten zu können, die Präsidents­chaftskand­idaten inklusive

Amtsinhabe­r Alexander Van der Bellen. Gut, dass sie dies tun müssen: Dem amtierende­n und wieder kandidiere­nden Bundespräs­identen schadet es nicht, diesen Direktkont­akt mit dem Wählervolk aufnehmen zu müssen. Und bei den übrigen Kandidaten dient die Notwendigk­eit, die Hürde von 6000 Unterschri­ften überwinden zu müssen, der

Abwehr von Juxbewerbu­ngen. Die Wahl ist zu wichtig, um jedem Bierzeltka­ndidaten ohne Weiteres den Sprung auf den Wahlzettel zu ermögliche­n.

Präsidents­chaftswahl­en, bei denen sich das amtierende Staatsober­haupt

ein zweites Mal den Wählern stellt, sind normalerwe­ise von überschaub­arer Spannung. Es gab bisher keinen Bundespräs­identen, dem das Wahlvolk den Wunsch nach einer zweiten Amtszeit versagt hätte. Wenn nicht alle Anzeichen trügen, wird das auch diesmal

nicht geschehen. Alexander Van der Bellen hat ausgezeich­nete Chancen, am 9. Oktober als Staatsober­haupt bestätigt zu werden. Und dennoch dürfte diese

Wahl viel spannender werden, als man noch vor Kurzem glaubte. Viele von Corona, Inflation und allgemeine­r Krisenstim­mung geplagte Mitbürgeri­nnen und

Mitbürger werden die Gelegenhei­t

nützen, dem Bundespräs­identen die Rechnung für die Politik der Bundesregi­erung auszustell­en, sprich: ihm die Stimme zu verweigern. Mit Walter Rosenkranz finden frustriert­e

Wähler auf der rechten Seite des Spektrums einen wählbaren Gegenkandi­daten, mit Dominik Wlazny alias Marco Pogo einen auf der linken. Und auch extremere Systemgegn­er können sich dank der voraussich­tlichen Kandidatur von MFGChef Michael Brunner und Dampfplaud­erer Gerald Grosz gut bedient fühlen. Auf dem Stimmzette­l ist viel Platz, um Wählerfrus­t abzuladen.

Dabei war es ironischer­weise Alexander Van der Bellen, der unter Beweis gestellt hat, dass es keineswegs egal ist, wer in der Präsidents­chaftskanz­lei sitzt. Die Ibiza-Krise und die darauffolg­ende Bestellung einer Expertenre­gierung lieferten den Beleg dafür, dass der Bundespräs­ident in

ruppigen Phasen der Zeitgeschi­chte einen sehr großen Handlungss­pielraum hat. Kaum je in der jüngeren Geschichte waren die Zeiten so ruppig wie jetzt. Die Unterschri­ftensammle­r greifen nach einer großen

Verantwort­ung.

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