Tichanowskaja verkündet eine belarussische Exilregierung
Vor zwei Jahren demonstrierten in Belarus so viele Menschen wie noch nie. Heute ist Diktator Lukaschenko gestärkt.
MINSK, WARSCHAU. Die belarussische Opposition erfindet sich zwei
Jahre nach dem blutig niedergeschlagenen Volksaufstand neu.
Zum Abschluss eines zweitägigen Oppositionskongresses in Vilnius
verkündete die informelle Oppositionsführerin die Schaffung einer
vorübergehenden Exilregierung. „Bis Ende September bilden wir eine Exilregierung und veröffentlichen die Liste aller Minister“, versprach Tichanowskaja am Dienstagabend in der litauischen Hauptstadt, wohin sie vor zwei Jahren ins Exil geflohen war.
Inzwischen arbeitet dort ein großer Stab für die mutmaßlich verhinderte Präsidentenwahlsiegerin.
Viele Oppositionspolitiker hatten
Tichanowskaja in den vergangenen
Wochen Zögerlichkeit vorgeworfen. Am Montag verlangten prominente Exilpolitiker aus Warschau die Gründung einer Regierung im Exil. Der ehemalige Kulturminister
und Diplomat Pawel Latuschko soll nun für seinen Aufruhr am Kongress belohnt und Transformationsminister werden. Walery Kowalewski soll Außenminister werden. Tichanowskaja selbst zeigte sich am Dienstag in Vilnius selbstkritisch. „Wichtig ist einzig und allein ein Machtwechsel in Minsk“, sagte die 39-Jährige.
In der Ukraine hat sich derweil ein bewaffneter Arm der Opposition gegründet. „Belarus – mein Vaterland, wir befreien und verteidigen dich, wo immer wir auch sind, unser Ziel sind Sieg und Freiheit!“,
sagen fünf Dutzend Kämpfer in Tarnfarben mit umgehängten Kalaschnikows auf Belarussisch. Auch zwei Frauen sind darunter. Sie stehen in zwei Spalieren in einem
Wald irgendwo in der Ukraine und versprechen, „die Moskauer“zu vertreiben, auch aus Belarus. Das neueste Propagandavideo des Freiwilligenbataillons
wurde rechtzeitig zwei Tage vor dem zweiten Jahrestag des Volksaufstands vom Sommer 2020 gegen Diktator Alexander Lukaschenko auf YouTube publiziert.
Die schätzungsweise 1000 Freiwilligen wollen erst die Russen in der Ukraine besiegen und dann Lukaschenko aus Belarus vertreiben.
Während sich die belarussische Opposition wie vor 2020 wieder in
einen inneren Streit zu begeben scheint, hat der russische Überfall auf die Ukraine die Lage des international isolierten Alexander Lukaschenko verbessert. Nur mit Russlands Hilfe konnte der Autokrat 2020 an der Macht bleiben. Die politische und wirtschaftliche Abhängigkeit wuchs enorm. Für den Angriff auf die Ukraine musste Lukaschenko
der russischen Armee seine Militärflugplätze und Infrastruktur zur Verfügung stellen. Bisher allerdings hat er es durch geschicktes Taktieren geschafft, sein Land nicht direkt in den Krieg hineinzuziehen. Damit kann sich der Diktator dem
Volk weiterhin als Friedensgarant präsentieren. Dies hat ihm einigen Zuspruch bei den politisch Unentschlossenen in Belarus verschafft.
Dazu herrscht in Belarus wieder ein Klima der Angst. Denn Lukaschenkos Sicherheitsapparat übt
unentwegt Rache an den Zehntausenden, die es 2020 gewagt hatten,
gegen seine Herrschaft auf die Straße zu gehen oder ihn zumindest in
den sozialen Netzwerken zu kritisieren. Bis zum Dienstag zählte die Menschenrechtsorganisation Wiasna 1262 politische Gefangene.