Salzburger Nachrichten

Ich wundere mich, wie normal unser Leben erscheint

Unsere Kolumnisti­n Daryna Melashenko harrt in Lemberg aus. Sirenen schrecken sie nicht mehr von der Parkbank auf.

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Auf den ersten Blick tickt Lemberg wie jede andere Großstadt. Sonntagabe­nd. Arbeitsmüd­e

Menschen füllen die Altstadt. Auf einer engen Caféterras­se plappert lebhaft eine Gruppe von

Teenagern. Ein Stück weiter sitzt ein verliebtes Pärchen, tief ineinander versunken. An einem der Tische verweile ich mit meinem Notizbuch.

Ich wundere mich, wie normal unser ganz unnormales Leben erscheinen mag. Der Alltag

läuft ununterbro­chen weiter. Tüchtiges Büroschuft­en, monotone Hausarbeit, süße Freizeitlü­cken. Noch ein Tag und noch ein Tag. Arbeitswoc­he, Freitagabe­nd, Wochenende.

Dank dieses Rhythmus fühle ich mich ziemlich wohl. Die Frage „Wie geht’s?“kann ich manchmal sogar mit „Gut“beantworte­n. Lemberg hieß mich in jedem Sinne willkommen. Ich kann gut arbeiten, gut essen und gut schlafen. Ein Luxus, der heute nicht jedem gestattet ist. „Wie verrückt.“Ich lausche. Meine Tischnachb­arn, die lärmigen Teens, besprechen irgendeine gemeinsame Freundin. „Ich wollte sie auch einladen, aber sie ist die ganze Zeit in

diesem Hilfezentr­um.“– „Was macht sie da?“– „Sie sagt, dass sie gerade Wohnungen für Flüchtling­e suchen, die früher in Schulen

wohnten.“– „Meine Oma hat eine Familie aus Cherson in ihrer Wohnung. Sie sagt, sie haben nicht einmal ihre Koffer ausgepackt.“– „Warum? Können sie nicht länger bleiben?“– „Sie

haben Angst, dass sie wieder umziehen müssen.“

Am Wochenende bin ich oft im Zentrum. Jetzt im Café, aber am liebsten sitze ich auf einer Bank bei dem winzigen Platz vor dem Lemberger Opernhaus. Dort gibt es viele Springbrun­nen, wo direkt aus dem Pflaster

kleine Wasserstra­hlen schießen, wie in der Linzer Gasse in Salzburg. Bei heißem Wetter kommen viele Familien mit Kindern zu dieser kleinen urbanen Attraktion. Ein bisschen weiter ist ein Lieblingso­rt vieler Straßenmus­iker. Eine Sirene, die plötzlich aus dem LaternenLa­utsprecher erklingt, ist nichts Ungewöhnli­ches. Einige Cafés schließen. Andere arbeiten

ununterbro­chen weiter, obwohl sie es eigent

lich nicht dürfen. Statt in den Luftschutz­keller zu laufen, gehen viele Menschen einfach nach Hause. Ich bleibe auf der Bank.

Man weiß nie, wann die ständige Gefahr wieder an sich erinnert. Unser Alltag mag schön geordnet sein, aber der Rhythmus der Sirenen ist ein anderer, ein gebrochene­r. Schon

lange müssen wir das Schönste und das Schrecklic­hste gleichzeit­ig erleben. Das Leben

und der Krieg dauern in einem verwirrend­en Kontrapunk­t. In Polen und Litauen sammeln Bürger Geld für Drohnen, die sie an die Ukraine übergeben wollen. Ein Massaker an Kriegsgefa­ngenen in Oleniwka. Unser Parlament ratifizier­t die Istanbul-Konvention. Vergewalti­gungen in Cherson. Meine Freundin heiratet. Mein Onkel stirbt. Ich weiß nicht

mehr wirklich, was ich fühle.

 ?? ?? Daryna Melashenko ist 26 Jahre
alt und ist von Bojarka bei Kiew nach Lemberg zu einem Freund
geflohen.
Daryna Melashenko ist 26 Jahre alt und ist von Bojarka bei Kiew nach Lemberg zu einem Freund geflohen.

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