Ein unkalkulierbares Risiko
In der Ukraine ist Europas größtes Atomkraftwerk unter Beschuss geraten. Welche Gefahren gehen von den Kämpfen rund um das AKW aus?
SALZBURG, KIEW. Lichtblitze. Ansonsten Dunkelheit. Und mittendrin ein Atomkraftwerk: Es gibt nur
wenige Aufnahmen, die die Kämpfe rund um das Kernkraftwerk Saporischschja in der Ukraine dokumentieren. Und auch sonst ist unklar,
was sich genau auf dem Reaktorgelände abspielt. Selbst wer auf wen geschossen hat, ist ungeklärt. Die Ukraine und Russland werfen sich gegenseitig den Beschuss des Atomkraftwerks vor.
Russland will die besetzte Anlage mit einer eigenen Flugabwehr ausstatten. „Die Luftabwehrsysteme
des Kraftwerks werden verstärkt“, sagte der Chef der von Moskau eingesetzten Militärverwaltung in der Region, Jewgeni Balizki, am Dienstag im russischen Staatsfernsehen. Bislang wurde in Europas größter
Atomanlage keine Radioaktivität freigesetzt. Dennoch sind die Vereinten Nationen alarmiert.
Eine „Selbstmordaktion“nannte Generalsekretär António Guterres die Kämpfe auf dem AKW-Gelände. Und auch der Chef der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), Rafael Grossi, sprach von einer „sehr realen Gefahr einer nuklearen Katastrophe“.
Die Sorgen um das Kernkraftwerk Saporischschja wecken Erinnerungen an die verheerende
Atomkatastrophe in Tschernobyl im April 1986. Könnte sich ein Super-GAU wie vor 36 Jahren wiederholen?
Grundsätzlich seien Kernkraftwerke nicht gegen militärische Einwirkungen geschützt, sagt Christoph Pistner, Leiter der Abteilung für Nukleartechnik und Anlagensicherheit des Ökoinstituts in Darmstadt. „Wenn Kämpfe rund um ein AKW stattfinden, kann daher
kein Mensch seriös sagen, wohin das in Zukunft noch führen wird.“
Zugleich betont der Nuklearexperte, dass Kernkraftwerke an sich robust sind. „Sie sind normalerweise geschützt gegen Einwirkungen von außen wie Stürme oder Erdbeben, manche auch gegen den Absturz von kleinen Flugzeugen“, sagt
Pistner.
Ob es zu einem nuklearen Zwischenfall durch Raketenbeschuss kommt, hänge vor allem davon ab, was beim Kraftwerk beschädigt wird, betont Kernphysiker Clemens
Walther vom Institut für Radioökologie und Strahlenschutz an der Leibniz-Universität Hannover.
Durch eine einzelne fehlgeleitete Rakete auf das Reaktorgebäude
werde es nicht zu einer massiven Freisetzung radioaktiven Materials
kommen. „Man müsste es schon darauf anlegen und mit massivem Beschuss und panzerbrechender Munition das Kraftwerk zerstören, damit etwas passiert“, sagt der Kernphysiker.
Doch beide Nuklearexperten sind sich sicher: Auch ohne Schäden am Reaktor können Sicherheitsmängel
entstehen. Beispielsweise könne Radioaktivität freigesetzt werden, wenn das Brennelementelager von einer Rakete getroffen wird, erläutert Walther. Bereits im März kam es zu so einem Zwischenfall in Saporischschja. „In so einem Fall wären die Folgen eher lokaler“, betont Walther.
Größere Auswirkungen hätte es, wenn die externe Stromversorgung durch die Kämpfe zerstört würde, erklärt Kernphysiker Pistner. Dann
wäre das Kühlsystem bedroht, ähnlich wie es beim Reaktorunfall in Fukushima der Fall war. „Direkt
nach dem Erdbeben wurden zwar die Reaktoren abgeschaltet, aber sie müssen danach dauerhaft weiter
gekühlt werden“, erläutert er. „Wenn dies nicht gelingt, heizt sich der Reaktorkern auf und es kann zu einer Kernschmelze kommen.“
Unklar ist auch, wie es dem Personal in dem besetzten Kraftwerk
fünf Monate nach der Eroberung durch russische Soldaten geht.
Ukrainischen Angaben nach werden sie von Mitarbeitern des russischen
Atomkonzerns Rosatom beaufsichtigt. Zudem befinden sich
bis zu 500 russische Soldaten auf dem Werksgelände. „Wenn das Personal unter hohem Stress steht und selbst um Leib und Leben fürchten
muss, besteht die Gefahr, dass bei den üblichen betrieblichen Vorgängen Fehler gemacht werden“, sagt Kernphysiker Pistner.
Wie lässt sich die Gefahr also zusammenfassend einschätzen? Pistner sagt, es gebe eine reale Gefahr für schwere Unfälle. „Da gibt es keine Beschönigungen.“Walther betont jedoch: „Weder die ukrainische
noch die russische Seite kann ein Interesse daran haben, dass ein Kraftwerk im laufenden Betrieb so
beschädigt wird, dass in großem Maße Radioaktivität freigesetzt
wird.“Dass die Kampfhandlungen auf dem Gelände eingestellt werden müssen, da sind sich beide Nuklearexperten einig. „Militärische Kampfhandlungen rund um einen Kernreaktor dürfen nicht stattfinden“, sagt Pistner. „Da gibt es kein
Wenn und Aber.“
„Kampfhandlungen rund um einen Kernreaktor dürfen nicht stattfinden.“Christoph Pistner, Kernphysiker