Telegram fordert Rechtsstaat heraus
Wie weit sind Hasspostings von Meinungsfreiheit gedeckt – und was passiert, wenn sogar gefährliche Inhalte nicht gelöscht werden?
WIEN. Das Posting „ich werde dich
betäuben und in meinem Keller foltern“ist unmissverständlich. Es richtete sich an die verstorbene
Ärztin Lisa-Maria Kellermayr. Die Rechtslage ist auch eindeutig: Seit 2021 schreibt das Kommunikationsplattformengesetz (KoPl-G) vor, dass rechtswidrige Inhalte, im zitierten Fall eine gefährliche Drohung, nach Prüfung binnen 24 Stunden von den Plattformen entfernt werden müssen. Scharf ist die Regelung bei strafrechtlich relevanten Inhalten, darunter fallen Verhetzung, Beleidigung oder Wiederbetätigung. Lässt die Plattform einen solchen Inhalt trotz Meldung stehen, führt der nächste Weg über die Beschwerdestelle der Rundfunk
und Telekom Regulierungs-GmbH (RTR). Die Aufsichtsbehörde KommAustria kann Geldstrafen
von bis zu zehn Millionen Euro gegen Plattformen wie Facebook, Instagram und Twitter verhängen.
Was aber, wenn es keine Zustelladresse für die Plattform gibt und Behördenpost im Nirwana landet?
Wenn sogar Morddrohungen stehen bleiben und Betroffene nichts dagegen tun können? Das ist der
Fall bei Telegram. Der Messengerdienst hat die gesetzlichen Auflagen in Österreich bisher ignoriert, ebenso wie die Aufforderung, eine
Ansprechperson Österreich zu nennen.
Der Fall wirft zwei Fragen auf: Welche Möglichkeiten hat der Staat und wie weit ist er bereit zu gehen? Das ist
gesellschaftlich und sicherheitspolitisch relevant. Auf Telegram tummeln sich besonders viele rechtsextreme Akteure, extremistische Inhalte kursieren
ungehindert, selbst Tötungsaufforderungen oder Anleitungen zum
Waffenbauen werden von der Plattform nicht gelöscht. Eine Studie des Institute for Strategic Dialogue belegt, dass Extremisten „trotz Regulierungsbemühungen“Telegram für ihre Reichweite erfolgreich einsetzen. Sie locken Nutzer mit weichen Inhalten von Facebook und Twitter, wo härter durchgegriffen
wird, weg auf ihre Telegram-Seiten. Dort hetzen sie ungestört, sowohl
gegen Privatpersonen wie Kellermayr als auch Menschen des öffentlichen Lebens.
Es scheint, als hätten Betroffene und Behörden keine Handhabe. Gelöscht wird in der Regel nicht, obwohl es das Gesetz vorschreibt. Geldstrafen können nicht eingehoben werden, weil es keine Bevollmächtigten gibt. Die gesetzliche Möglichkeit, Bußgelder über Werbekunden einzutreiben, funktioniert nur theoretisch – Telegram ist immer noch werbefrei. Die KommAustria bereitet im Namen der Republik jetzt eine Klage gegen Telegram FZ LLC in Abwesenheit vor. Es ist „die letzte Möglichkeit, die der Gesetzgeber vorgesehen hat“, sagt
Andreas Kunigk, Sprecher der Medienbehörde. Auch ein Gerichtsurteil bleibt wirkungslos, wenn es nicht zugestellt werden kann.
Was geschieht, wenn gefährliche Inhalte, etwa Anschlagspläne oder Kinderpornografie, über Telegram
verbreitet werden? Die Frage, was mit Telegram geschieht, wenn gefährliche Inhalte verbreitet werden
und die Plattform nicht auf Behörden reagiert, bleibt von den angefragten Ministerien für Justiz, Medien
und dem Bundeskanzleramt unbeantwortet. Die Sperre einer Plattform sieht das KoPl-Gesetz jedenfalls nicht vor. „Das wäre auch ein
massiver Eingriff, wir sind ein Rechtsstaat“, sagt KommAustriaSprecher Kunigk.
Das Recht auf Meinungsfreiheit, genauer gesagt das Recht auf Äußerung derselben, ist als demokratisches Grundrecht streng geschützt.
Wer einen Anbieter sperrt, weil Einzelne gegen das Gesetz verstoßen,
verwehrt Tausenden anderen den Zugang. Das Recht auf freie Meinungsäußerung ist aber kein Freibrief, gegen andere zu hetzen. „Die Grenze ist überschritten, wenn Äußerungen in sozialen Medien einen
Straftatbestand darstellen“, stellt eine Referentin aus dem Justizministerium klar.
Abgesehen von der unklaren Rechtsgrundlage ist eine Sperre von Telegram technisch schwierig bis
unmöglich. Bisher wurde das in Österreich nur auf Streamingplattformen angewendet, die gegen das Urheberrecht verstoßen. Seit Kriegsausbruch im Frühjahr sind in der EU auch alle Domains von Russia
Today gesperrt, basierend auf der EU-Sanktionsverordnung. Netzaktivisten und Juristen warnen vor Missbrauch der Infrastruktur für
politische Zwecke. „Eine Sperre wäre sowohl aus Sicht der Plattform als auch aus Sicht der Nutzer ein
schwerwiegender Eingriff in die
Äußerungsfreiheit und daher sehr heikel“, meint Verfassungsrichter Michael Rami. Andererseits beurteilt er die Forderungen des Gesetzgebers an die Plattformen nicht als überschießend.
Was können Behörden tun, wenn Gefahr im Verzug ist? „Ein Patentrezept gibt es nicht. Einzelne Inhalte zu löschen ist grundrechtlich leichter zu rechtfertigen als die Sperre einer ganzen Plattform“, sagt Rami. Er warnt, dass es rechtsstaatlich sehr gefährlich sei, die Büchse der
Pandora zu öffnen. Ähnlich beur
teilt das Netzpolitik in Deutschland. „Sperren sind demokratiegefährdend“, sagt ein Sprecher der Organisation. Umgekehrt warnt das Bundeskriminalamt in Berlin in einer Aussendung, die Entwicklung sei durchaus demokratiegefährdend, „wenn Menschen sich nicht
mehr trauen, ihre Meinung zu äußern oder ein Amt zu übernehmen“. In Deutschland zeigt der Druck der Regierung auf Telegram
Wirkung. Im Februar sperrte der umstrittene Messengerdienst erstmals mehrere Kanäle wegen „Verstößen gegen lokale Gesetze“– allerdings sind die Kanäle in Österreich weiterhin abrufbar.