„Beiden Seiten geht die Luft aus“
Rund um die von russischen Soldaten besetzte Stadt Cherson hat die Ukraine eine Gegenoffensive gestartet. Dabei gehe es nicht nur darum, die strategisch wichtige Stadt zurückzuerobern, sagt Brigadier Philipp Eder.
Die Ukraine versucht in der Region Boden zurückzugewinnen – doch
wie stehen die Chancen auf Erfolg? Brigadier Philipp Eder vom Österreichischen Bundesheer über die Lage im Süden der Ukraine und vor welchen Problemen die russischen wie auch die ukrainischen Streitkräfte momentan stehen.
Herr Eder, welche Informationen haben Sie zu der Gegenoffensive in Cherson?
SN:
Philipp Eder: Wir erfahren zu der Offensive vergleichsweise sehr wenig. Was wir aber wissen: Es gibt fünf oder sechs Punkte im Oblast Cherson, wo die ukrainische Armee
von Norden nach Süden angreift. Und es gibt unterschiedliche Meldungen, ob es sich hierbei jeweils
um kompaniestarke Angriffe handelt, das wären ungefähr 100 bis zu 200 Soldaten, oder bataillonsstarke
Angriffe mit ungefähr 500 Soldaten.
Wie viele Soldaten bräuchte die Ukraine für eine erfolgreiche Gegenoffensive in Cherson?
SN:
Grundsätzlich sagt man, dass der
Angreifer eine dreifache Überlegenheit haben soll. Die Soldaten, die die Ukrainer aktuell im Einsatz
haben, können nicht viel erreichen.
SN: Es handelt sich also bei der Offensive nicht um den Beginn von Selenskyjs angekündigter Rückeroberung der russisch besetzten Gebiete?
Nein, das ist noch keine Großoffensive. Wir schätzen, dass die Ukraine momentan nicht über die Möglichkeiten dazu verfügt.
SN: Welche Strategie verfolgt Wolodymyr Selenskyj dann?
Eine der Absichten des Präsidenten
ist, die Situation auszunutzen, dass die Verteidigungslinien im Raum Cherson etwas dünner sind, nachdem die Russen ihr Schwergewicht im Osten haben. Russland hat aber nach der Ankündigung von Selenskyj vergangenen Monat schon Truppen in den Süden verschoben.
SN: Also war es gar nicht so klug, die Offensive vorher
anzukündigen – oder steckt
auch da eine Strategie dahinter?
Es wundert auch uns Militärexperten, wieso Selenskyj diese Gegenoffensive groß angekündigt hat. Aber ich denke, sie diente dazu, dass die russische Armee gezwungen war, Truppen aus dem Osten wegzunehmen. Damit lässt der Druck auf die
ukrainischen Soldaten dort nach. Man muss den Donbass und Cherson als ein gemeinsames Schlachtfeld sehen. Umso mehr russische
Truppen vom Osten Richtung Süden verlegt werden, umso schwerer
tun sich die russischen Soldaten, im Osten weiter vorzustoßen.
Welche Bedeutung haben die Region Cherson und der durch sie fließende Fluss Dnepr aus strategischer Sicht?
SN:
Der Oblast Cherson ist geteilt durch den Fluss Dnepr – und die strategische Bedeutung für Russland zu Beginn des Kriegs war, dass Cherson die erste und einzige Stelle war, wo
russische Truppen den Fluss von Süden nach Norden überqueren
konnten. Jetzt dürfte das erste Ziel der Ukraine sein, die russischen
Soldaten über den Fluss wieder
nach Süden zurückzudrängen. Da der Dnepr als natürliche Verteidigungslinie für die Ukraine ein günstiges Verteidigungsgelände ist.
In den vergangenen Wochen hat die Ukraine mehrere Brücken rund um Cherson zerstört. War das eine Vorbereitung auf die Offensive?
SN:
Die Flussübergänge wurden zerstört, um zu verhindern, dass russische Soldaten über den Fluss Nachschub bekommen. Die Russen, die nördlich des Flusses sind, sind abhängig von diesen Übergängen, um Munition, Treibstoff, Wasser, Verpflegung zu erhalten. Und umso mehr den ukrainischen Soldaten gelingt, den Nachschub zu unterbrechen, umso schwächer werden die russischen Kräfte dort.
SN:
Wie sind die Erfolgsaussichten in Bezug auf Cherson?
Das ist schwer zu sagen. Was mich stutzig macht und was eigentlich unüblich ist: Derartige Offensiven
von Panzern und Bodentruppen werden grundsätzlich nur möglich, wenn man Luftüberlegenheit hat.
Augenscheinlich werden die Bodentruppen aber nicht aus der Luft
unterstützt. Interessanterweise tauchen auch keine russischen Luftstreitkräfte auf, um die ukrainischen Bodentruppen zu stoppen.
SN:
Ich kann nur spekulieren, aber vielleicht verfügen die Ukrainer durch die westlichen Waffenlieferungen
über Flugabwehrsysteme, vor denen die Russen so viel Respekt haben, dass sie die Luftstreitkräfte nicht näher heranlassen. Das war zumindest in den vergangenen Monaten über der gesamten Ukraine zu beobachten.
Selenskyj betont, dass er die russischen Streitkräfte komplett aus seinem Land drängen will – besitzt die Ukraine momentan genügend Waffen und Soldaten, um eine Großoffensive zu starten?
SN:
Es gibt derzeit kein Indiz, dass die Ukraine in der Lage wäre, eine so massive Gegenangriffskraft aufzubauen. Das ist etwas, das vielleicht in einigen Monaten oder Jahren
möglich sein könnte. Russland startet immer noch jeden Tag Angriffe und zerstört mit seinen Luftstreitkräften Versorgungs-, Munitionsoder Waffendepots der Ukrainer.
Könnte der Westen die Ukraine hochrüsten, dass eine Großoffensive möglich wäre?
SN:
Momentan nicht. Auch die Signale aus den meisten Ländern sind eher, dass sie keine Waffen mehr liefern
können. Derzeit leben die Ukrainer in erster Linie von der amerikanischen Unterstützung.
Wenn es momentan so wenige Chancen gibt, wieso kündigt Selenskyj die Gegenoffensive so groß an?
SN:
Wie erklären Sie sich das?
Für die Ukraine ist es wichtig, dass sie einerseits die Kampfmoral aufrechterhält. Andererseits soll der Westen den Krieg nicht aus den Augen verlieren, da die Ukraine von seiner Unterstützung abhängig ist. Mit Aktionen wie der Gegenoffensive zeigt die Ukraine dem Westen: Die Waffen, die ihr uns schickt, werden gebraucht, es ist nicht umsonst.
In welcher Phase ist der Krieg momentan?
SN:
Es ist eine erste größere Erschöpfungsphase. Offensichtlich hat die
russische Armee Probleme, Soldaten zu rekrutieren. Vor allem fehlen ihnen Fußsoldaten, um Offensiven erfolgreich durchführen zu können.
Das war auch einer von mehreren Faktoren, wieso der Sturm auf Kiew
gescheitert ist. Und wir beobachten dahingehend keine große Veränderung.
SN: Aber erst vor gut einer Woche hat Putin angeordnet, dass die russischen Streitkräfte verstärkt werden sollen.
Dies kann kurzfristig nur die Ausfälle kompensieren. Also die Zehntausenden russischen Soldaten, die
gestorben, verletzt oder desertiert sind. Vor einer größeren Mobilmachung scheut sich Putin, da es für Russland offiziell eine „militärische Spezialoperation“und kein Krieg
ist. Hinzu kommt, dass viele russische Soldaten scheinbar nicht mehr sehen, wozu dieser Kampf überhaupt gut sein soll. Diese Einstellung darf aus Sicht des Kremls nicht die breite Bevölkerung erreichen.
SN: Dagegen ist die Kampfmoral bei den Ukrainern sehr hoch.
Ja, die Ukrainer sind viel motivierter, ihr eigenes Land zu verteidigen.
Aber sie kämpfen unter schwierigen Bedingungen, da ihnen das Material ausgeht.
Beiden Seiten geht aus unterschiedlichen Gründen die Luft aus.
Es kommt also jetzt darauf an, wer länger durchhält?
SN:
Wahrscheinlich wird Russland den längeren Atem haben. Es hat mehr Potenzial an Soldaten und eine eigene Waffenindustrie. Moskau wird den Krieg weiter langsam angehen. Die einzige Gefahr dieser Strategie
wäre, wenn das Volk gegen Putin massiver als bisher protestieren
würde. Solange das nicht der Fall ist, hat es Russland nicht eilig.
Brigadier Philipp Eder leitet die Abteilung Militärstrategie im Generalstab des Österrei
chischen Bundesheers.