Chiles Neugründung ist in Gefahr
Das Ringen um die neue Verfassung ist auf der Zielgeraden. Die Befürworter müssen bangen.
SANTIAGO DE CHILE. Barbara Sepúlveda parkt ihren roten Pick-up vor dem Nachbarschaftskomitee von Cerro Navia, einem Arbeitervorort von Santiago de Chile. Die 37 Jahre alte Anwältin ist Mitglied der Verfassungsversammlung. Sie springt aus dem Auto, der Lippenstift ist frisch aufgetragen, der Rock
für die Jahreszeit mutig kurz. Der südamerikanische Winter lässt noch einmal seine Muskeln spielen.
Sepúlveda betritt die sandfarbene Halle. Rund 30 Leute sitzen an einem langen Tisch, in ihrer Mehrzahl Pensionisten. Fleecepullis und dicke Strickjacken dominieren. Auf dem Tisch stehen Käsesandwichs
und Kekse, dazu wird Nescafé gereicht.
In Cerro Navia leben 160.000 Menschen, einen Supermarkt gibt es nicht, dafür viele Trinkhallen,
kleine Läden. Die Häuser sind meist grau und geduckt. Die Menschen sind herzlich und unkompliziert, aber sie haben komplizierte Fragen.
Sepúlveda begrüßt jede und jeden wie alte Freunde mit einem Wangenkuss. Die Juristin hat an dem Entwurf einer neuen Verfassung mitgeschrieben, der am Sonntag zur Abstimmung steht. Seit Wochen reist die junge Frau durch Stadt und Land, um den Menschen den neuen, komplexen Text zu erklären. Hier in Cerro Navia hat Sepúlveda ein Heimspiel. Hier wurde sie vor einem Jahr in die verfassunggebende Versammlung gewählt, die in Rekordzeit die 388 Artikel zusammenstellte. Eine
Verfassung, wie es sie noch nie gegeben hat. Geschrieben von linken
politischen Kräften und Mitgliedern der Zivilgesellschaft, Juristen, Verfassungsexpertinnen. Die professionellen Politiker waren an einer Hand abzuzählen. Dementsprechend groß ist die Polemik im Land, die Kampagne der rechten Opposition ist massiv.
Für die Mütter und Väter des neuen Grundgesetzes geht es um nichts weniger als die „Neugründung“Chiles, wie es damals bei der
Konstituierung die Vorsitzende der Verfassungsversammlung, Elisa
Loncón, ausdrückte. Aber nicht alle Chileninnen und Chilenen sind
davon überzeugt, dass die neue Magna Charta die richtige für das
Land ist. Auch wenn sich vor mehr als einem Jahr fast 80 Prozent der
Menschen dafür aussprachen, die
Verfassung aus Diktaturzeiten endlich einzumotten. Aber einigen geht der Entwurf zu weit, andere haben Angst vor zu viel Veränderung.
Es ist Dienstag und es sind noch fünf Tage bis zur Abstimmung. „Ich
bin hier, um Ihre Zweifel an dem Entwurf zu beseitigen“, sagt Sepúlveda. Solche „Verfassungsgespräche“haben seit dem 4. Juli, als die
Kommission den Entwurf vorlegte, zu Hunderten stattgefunden.
Barbara Sepúlveda absolviert jeden Tag drei bis vier dieser Bürgergespräche, die meisten wie hier in Cerro Navia vor Ort, andere virtuell.
Eine Markthändlerin möchte wissen, wie das künftig mit der Besteuerung des informellen Wirtschaftssektors ist. Sie hat ein Exemplar der Verfassung dabei, einen Stift und macht sich an den entsprechenden Artikeln Anmerkungen.
Die meisten Zuhörer interessieren altersbedingt die Veränderungen
im Gesundheitssektor. Mit großer Geduld erläutert Sepúlveda, wie (private) Kliniken und (staatliche)
Spitäler künftig funktionieren und dass die Wartezeiten für eine HüftOP deutlich kürzer werden. „Der
Staat nimmt sich nun der Gesundheit seiner Bürger an“, versichert die Anwältin.
Ein anderer Zuhörer will wissen, wie das mit dem Wasser wird. „Es wird den Unternehmern wehtun, die auf den großen Reservoirs sitzen und damit spekulieren und es mit Hypotheken belasten.“Künftig wird das Wasser in erster Linie der
Allgemeinheit zustehen. Administriert wird es von einer Nationalen
Wasserbehörde. Die Menschen in Cerro Navia freuen sich, weil sie
hoffen, dass ihre Rechnungen niedriger werden. Für viele andere sind so viele Veränderungen eine Art kommunistische Vorhölle.
Tatsächlich will die neue Verfassung das schmale Land am Ende
Südamerikas auf ein neues gesellschaftliches Gleis setzen. Weg vom
Neoliberalismus, hin zu einem sozialen Rechtsstaat klassisch sozialdemokratischer Prägung mit hochaktuellen und notwendigen Elementen wie dem Feminismus und dem Klimaschutz.
Was da zur Abstimmung steht, ist derzeit eines der spannendsten Projekte der modernen Demokratie und hat Wirkung über Chile hinaus. Experten und Juristen nennen die
Verfassung avantgardistisch, postmodern, auf der Höhe der Zeit oder träumerisch, hyperaktivistisch und
linksradikal. Je nach politischem
Standort. Von allem hat sie ein
bisschen etwas. Sollte sie am Sonntag angenommen werden, stellt sie die chilenische Politik und Gesellschaft auf den Kopf.
Vielen Menschen macht das Angst. In den Umfragen liegt die Option „Rechazo“(Ablehnung) mit rund zehn Prozent deutlich
vor der Option „Apruebo“(Annahme). Das liegt zum einen an einer massiven Kampagne der
Falschinformation in den Medien und den sozialen Netzwerken. Aber nicht nur.
Es hat auch mit Geburtsfehlern der Verfassung zu tun, wie der Ausgrenzung der rechten Mitglieder des Konvents, aber auch mit der falschen Erwartung der Menschen, dass alles von
heute auf morgen besser wird. „Eine neue Verfassung schafft
Normen, Rahmen und Rechte, aber sie löst nicht am nächsten
Tag die langen Schlangen am Krankenhaus auf“, sagt Camila Miranda, Direktorin der Denkfabrik Fundación Nodo XXI.
Und letztlich wollen viele mit einer Ablehnung der Verfassung ihrem Ärger über die bisherige
Amtszeit von Präsident Gabriel Boric Ausdruck verleihen. 56 Prozent stellten seiner Regierung nach knapp vier Monaten im
Amt ein schlechtes Zeugnis aus.
Große Veränderung macht vielen Angst