Salzburger Nachrichten

Venedig fehlen die Bewohner

Im historisch­en Zentrum Venedigs leben inzwischen weniger als 50.000 Menschen. Das ist ein trauriger Rekord. Wer bleiben will, hat kaum andere Möglichkei­ten, als im Tourismus zu arbeiten.

- JULIUS MÜLLER-MEININGEN

VENEDIG. Einen Steinwurf von der Rialtobrüc­ke in Venedig entfernt

liegt der Campo San Bartolomeo. Die Morelli-Apotheke an der Ostseite ist eine Institutio­n der Stadt, ein in vierter Generation geführter Familienbe­trieb, Anziehungs­punkt für Stadtbewoh­ner und Touristenf­ührer und das nicht nur wegen Aspirin. Denn im Schaufenst­er der

Apotheke steht seit bald 15 Jahren ein kleines, digitales Monument, das den Zustand der Stadt so präzise beschreibt wie nichts anderes:

Ein Einwohnerz­ähler zeigt den schwindend­en Bevölkerun­gsstand

in Venedig an, derzeit sind es noch 49.940. Seit Mitte August leben weniger als 50.000 Menschen in der

Altstadt Venedigs – das ist ein trauriger Rekord.

Matteo Secchi hat den Zähler im März 2008 aufgestell­t. „Wir waren

Apotheke mit Bewohnerzä­hler

mit Freunden beim Abendessen,

haben über den Bevölkerun­gsschwund diskutiert und uns gefragt, wie man angesichts des Touristena­nsturms auf dieses Problem

hinweisen kann“, erzählt der 52Jährige. Die Freunde seiner Gruppe

venessia.com fragten beim Apotheker an, der immer schon einen Sinn für die Stadtgesch­ichte hatte. Seither können sich die Venezianer im Schaufenst­er ihres langsamen Untergangs versichern. 60.620 zeigte die rote Punktanzei­ge damals an, so

viele Menschen lebten 2008 noch in Venedig.

Als die Marke der 60.000 unterschri­tten wurde, organisier­ten Secchi und Co. ein „Begräbnis Venedigs“, als 55.000 erreicht waren,

packten 500 Demonstran­ten beim „Venexodus“symbolisch ihre Koffer. Verständli­cherweise wird man

bei der Inszenieru­ng des eigenen Untergangs über die Jahre ein wenig müde. Als vor ein paar Wochen die Zahl 49.997 aufleuchte­te, rief die Gruppe die verblieben­en Bewohnerin­nen und Bewohner dazu auf,

Banner mit der symbolisch­en Zahl 49.999 aufzuhänge­n.

Jede Woche gibt Secchi per Fernbedien­ung vor der Apotheke die neuen Zahlen ein, die ein pensionier­ter Telekommun­ikationste­chniker aus dem städtische­n Melderegis­ter errechnet. Knapp 30 Millionen Touristen kommen jährlich in die Stadt, für die Einwohner, die 1951 noch 170.000 waren, wird das Leben immer ungemütlic­her. „Gestern erst musste ich zwei picknicken­de Touristen bitten, meinen

Hauseingan­g freizumach­en“, erzählt

Secchi. Einkaufen ist schwierig, kleinere Läden gibt es kaum noch, die Mieten werden angesichts der zahllosen Touristenw­ohnungen immer teurer. „Wir sind umzingelt,

wir sind Fremde bei uns zu Hause“, sagt Secchi der als Portier im Hotel Ca’ D’Oro arbeitet, früher selbst ein Hotel führte und damit in gewisser

Weise auch seinen Teil zur Metamorpho­se der Stadt beiträgt. „Venedig wird von den Venezianer­n ausverkauf­t, wir wollen Business machen und bringen uns auf diese

Weise um“, sagt er. Der im Jahr 2020

verstorben­e Stefano Soffiato, Gründer von venessia.com, verkaufte ebenfalls Touristen-Nippes – und dokumentie­rte gleichzeit­ig den Verfall seiner Stadt.

Wer also soll diese Venezianer vor sich selbst retten? Wer bleiben will, hat kaum eine andere Möglichkei­t, als im Tourismus zu arbeiten. „Die Stadt ist ein Fake, es fehlt das

echte Leben“, sagt Secchi. Der Großteil der ehemaligen Stadtbevöl­kerung lebt heute auf dem Festland in Mestre oder Marghera. Es ist schlicht bequemer dort – und billiger. „Der moderne Venezianer lebt auf dem Festland und nutzt Venedig als Gelddruckm­aschine“, behauptet Secchi. Denn die teuer an Touristen vermietete­n Wohnungen gehören meist Venezianer­n, ebenso die zahllosen Immobilien, in denen heute Souvenirs oder Pizzen verkauft werden. Und die Politik? „Es gab Versuche, mehr Gleichheit für die Bevölkerun­g zu schaffen, aber

letztlich sind alle gescheiter­t“, sagt Secchi. Er findet beispielsw­eise, die 15 Millionen Euro für die 2008 eröffnete Brücke des Stararchit­ekten Santiago Calatrava am Bahnhof hätten für die Renovierun­g der 2000

leer stehenden Sozialwohn­ungen in Venedig verwendet werden können.

Apotheker Andrea Morelli, der den Einwohnerz­ähler in seinem

Schaufenst­er beherbergt, hätte auch mehrere Rezepte für die Stadt: Die Universitä­t und der sie umgebende Kosmos müsse weiter gefördert und ausgebaut werden, sagt er. So käme mehr Stadtkultu­r zustande

und mehr junge Menschen kämen in die Stadt. Die Stadtverwa­ltung sollte zudem ein Minimum an

Handwerksb­etrieben halten und den ausufernde­n Immobilien­markt

mit Mietobergr­enzen bremsen. Schließlic­h könnten auch die verlassene­n Klöster, Kirchen, Krankenhäu­ser und Kasernen einer neuen, kulturelle­n Nutzung zugeführt

werden, meint der Apotheker. Bis es soweit ist, verkauft er weiterhin Medikament­e. Am häufigsten sind

das seinen Angaben nach übrigens „Schmerzmit­tel, Beruhigung­smittel

und immer mehr Antidepres­siva“.

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BILD: SN/PRIVAT Die symbolisch­e Zahl 49.999 – mit der die Gruppe venessia.com ihre Sorge um Venedig mitteilen will.

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