Wenn der Sommer wieder weit ist
Der Sommer geht zu Ende, der Herbst kündigt sich an. Das erste Halbjahr ist also abgelaufen. Was für ein Glück: Jetzt kann das zweite beginnen.
Der Herbst steht vor der Tür. Das ist nicht die schlechteste Nachricht. Es ist die Zeit, in der man
immer etwas anziehen kann, wenn einem zu kalt wird. Im Sommer war das nicht immer so. Am liebsten wäre ich manchmal nackt auf die Straße gegangen, so sehr kam ich ins Schwitzen. Diesen Anblick konnte ich meinen Mitmenschen natürlich nicht zumuten. Dass Melancholie
um sich greift, wenn der Sommer zu Ende geht, ist ein Geschenk des Himmels. Wenn Sie dieses Wochenende in die Natur gehen, dann dürfen Sie ruhig Friedrich Hölderlin zitieren. Sein Gedicht „Hälfte des Lebens“bringt zum Ausdruck, was die Liebe zur Natur und zu den Jahreszeiten ist. Sie ist das Paradies auf Erden, ein Garten Eden, der sich in diesen Tagen für uns alle ungefähr so präsentiert:
Mit gelben Birnen hänget Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See, Ihr holden Schwäne, Und trunken von Küssen Tunkt ihr das Haupt Ins heilignüchterne Wasser.
Das führt mich zu einem Philosophen der Nachtlokale: zu dem Andalusier Mateo Ordóñez, der in Salzburg die formidable Weinbar
Divinotinto betreibt. Eines Tages saßen ein paar Romanistik-Studenten
in seiner Bodega. Als sie hörten, dass er aus Malaga stammt, sangen sie Loblieder auf das Leben im Süden. Er lächelte nur und sagte: „Schaut her. In Malaga haben wir
nur eine kaputte Burg. Und es ist immer heiß. Und was habt ihr in Salzburg? In der Früh kann es sein, dass es nebelig ist. Vormittag kann es kurz regnen. Nachmittag wird es dann womöglich wieder heiß. Und
wenn ihr ganz viel Glück habt, dann gibt es sogar noch Hagel. Alle vier Jahreszeiten an einem Tag.“
Die Studenten nickten einander zu. Ihr Gesichtsausdruck verriet: Ja,
wir schimpfen eindeutig zu leichtfertig über das Wetter. Denn wenn es regnet, dann könnte es sein, dass genau das der Grund ist, warum es draußen meistens noch ziemlich grün aussieht.
Nun sind wir bei der Hälfte dieser „Ruhezone“angelangt. Widmen wir uns also wieder diesem magischen Zeitpunkt, an dem der Sommer in den Herbst übergeht. Er markiert die Hälfte des Jahres. Der schönste Teil des Jahres kann also
immer noch vor uns liegen. Hören Sie sich nur einmal die vier Jahreszeiten von Antonio Vivaldi an. Da
wird der Sommer stürmisch in Szene gesetzt – oder apathisch. Auf ein Menschenleben gerechnet ähnelt er der Zeitspanne zwischen 20 und
45 Jahren. Da wird nächtelang durchgezecht, da werden Abenteuer gesucht und Risiken eingegangen. Und da erleidet man auch so manchen Rückschlag.
Konstantin Wecker war 45 Jahre alt, als er im Sternenzelt von Bad Reichenhall sein wunderschönes Lied „Wenn der Sommer nicht
mehr weit ist“angekündigt hat. Da saß er vor seinem Klavier, schaute
ins Publikum und sagte:
„Mir kam vor einem Jahr der erschreckende und ernüchternde Gedanke, die mir noch verbleibende Zeit nicht mehr in Jahren, sondern
in meinen heißgeliebten Sommern zu zählen. Also, noch gut 30 Jahre Leben, das ist das eine. Aber nur noch 30 Sommer, das ist entsetzlich
überschaubar, abzählbar. Aber hört zuerst mal die optimistische Version jugendlicher Jahre.“
Dann begann er zu singen: Wenn der Sommer nicht mehr weit ist – und der Himmel violett, weiß ich, dass das meine Zeit ist, weil die Welt dann wieder breit ist, satt und ungeheuer fett.
Ja, Sie haben richtig gelesen. Damals, vor ungefähr 30 Jahren, war es noch ein Qualitätsmerkmal, wenn etwas „ungeheuer fett“war. Die
nächste Strophe erinnert mich wieder an meinen Wunsch, nackt auf die Straße zu treten (keine Angst:
Ich tue es nicht). Wenn der Sommer nicht mehr weit ist – und die Luft nach Erde schmeckt, ist’s egal, ob man gescheit ist, wichtig ist, dass man bereit ist – und sein Fleisch nicht mehr versteckt. Wecker ließ sich vom Sommer berauschen. Heute, im Alter von 75 Jahren, hat er
wohl auch schon die Vorzüge eines kalten Wintertags entdeckt. So wie der französische Philosoph ÉmileAuguste Chartier. Der schrieb: „Ich schaue keineswegs auf jemanden
herab, der sagt: Eine schöne, trockene Kälte – nichts ist gesünder. Denn
was könnte es Besseres geben, sich die Hände zu reiben, wenn ein eisiger Nordost bläst.“Anders gesagt: Freuen wir uns nicht, wenn es warm
wird. Denn wirklich warm wird uns nur, wenn wir uns freuen.