Salzburger Nachrichten

Wenn der Sommer wieder weit ist

Der Sommer geht zu Ende, der Herbst kündigt sich an. Das erste Halbjahr ist also abgelaufen. Was für ein Glück: Jetzt kann das zweite beginnen.

- PETER GNAIGER einfach LIEBE

Der Herbst steht vor der Tür. Das ist nicht die schlechtes­te Nachricht. Es ist die Zeit, in der man

immer etwas anziehen kann, wenn einem zu kalt wird. Im Sommer war das nicht immer so. Am liebsten wäre ich manchmal nackt auf die Straße gegangen, so sehr kam ich ins Schwitzen. Diesen Anblick konnte ich meinen Mitmensche­n natürlich nicht zumuten. Dass Melancholi­e

um sich greift, wenn der Sommer zu Ende geht, ist ein Geschenk des Himmels. Wenn Sie dieses Wochenende in die Natur gehen, dann dürfen Sie ruhig Friedrich Hölderlin zitieren. Sein Gedicht „Hälfte des Lebens“bringt zum Ausdruck, was die Liebe zur Natur und zu den Jahreszeit­en ist. Sie ist das Paradies auf Erden, ein Garten Eden, der sich in diesen Tagen für uns alle ungefähr so präsentier­t:

Mit gelben Birnen hänget Und voll mit wilden Rosen

Das Land in den See, Ihr holden Schwäne, Und trunken von Küssen Tunkt ihr das Haupt Ins heilignüch­terne Wasser.

Das führt mich zu einem Philosophe­n der Nachtlokal­e: zu dem Andalusier Mateo Ordóñez, der in Salzburg die formidable Weinbar

Divinotint­o betreibt. Eines Tages saßen ein paar Romanistik-Studenten

in seiner Bodega. Als sie hörten, dass er aus Malaga stammt, sangen sie Loblieder auf das Leben im Süden. Er lächelte nur und sagte: „Schaut her. In Malaga haben wir

nur eine kaputte Burg. Und es ist immer heiß. Und was habt ihr in Salzburg? In der Früh kann es sein, dass es nebelig ist. Vormittag kann es kurz regnen. Nachmittag wird es dann womöglich wieder heiß. Und

wenn ihr ganz viel Glück habt, dann gibt es sogar noch Hagel. Alle vier Jahreszeit­en an einem Tag.“

Die Studenten nickten einander zu. Ihr Gesichtsau­sdruck verriet: Ja,

wir schimpfen eindeutig zu leichtfert­ig über das Wetter. Denn wenn es regnet, dann könnte es sein, dass genau das der Grund ist, warum es draußen meistens noch ziemlich grün aussieht.

Nun sind wir bei der Hälfte dieser „Ruhezone“angelangt. Widmen wir uns also wieder diesem magischen Zeitpunkt, an dem der Sommer in den Herbst übergeht. Er markiert die Hälfte des Jahres. Der schönste Teil des Jahres kann also

immer noch vor uns liegen. Hören Sie sich nur einmal die vier Jahreszeit­en von Antonio Vivaldi an. Da

wird der Sommer stürmisch in Szene gesetzt – oder apathisch. Auf ein Menschenle­ben gerechnet ähnelt er der Zeitspanne zwischen 20 und

45 Jahren. Da wird nächtelang durchgezec­ht, da werden Abenteuer gesucht und Risiken eingegange­n. Und da erleidet man auch so manchen Rückschlag.

Konstantin Wecker war 45 Jahre alt, als er im Sternenzel­t von Bad Reichenhal­l sein wunderschö­nes Lied „Wenn der Sommer nicht

mehr weit ist“angekündig­t hat. Da saß er vor seinem Klavier, schaute

ins Publikum und sagte:

„Mir kam vor einem Jahr der erschrecke­nde und ernüchtern­de Gedanke, die mir noch verbleiben­de Zeit nicht mehr in Jahren, sondern

in meinen heißgelieb­ten Sommern zu zählen. Also, noch gut 30 Jahre Leben, das ist das eine. Aber nur noch 30 Sommer, das ist entsetzlic­h

überschaub­ar, abzählbar. Aber hört zuerst mal die optimistis­che Version jugendlich­er Jahre.“

Dann begann er zu singen: Wenn der Sommer nicht mehr weit ist – und der Himmel violett, weiß ich, dass das meine Zeit ist, weil die Welt dann wieder breit ist, satt und ungeheuer fett.

Ja, Sie haben richtig gelesen. Damals, vor ungefähr 30 Jahren, war es noch ein Qualitätsm­erkmal, wenn etwas „ungeheuer fett“war. Die

nächste Strophe erinnert mich wieder an meinen Wunsch, nackt auf die Straße zu treten (keine Angst:

Ich tue es nicht). Wenn der Sommer nicht mehr weit ist – und die Luft nach Erde schmeckt, ist’s egal, ob man gescheit ist, wichtig ist, dass man bereit ist – und sein Fleisch nicht mehr versteckt. Wecker ließ sich vom Sommer berauschen. Heute, im Alter von 75 Jahren, hat er

wohl auch schon die Vorzüge eines kalten Wintertags entdeckt. So wie der französisc­he Philosoph ÉmileAugus­te Chartier. Der schrieb: „Ich schaue keineswegs auf jemanden

herab, der sagt: Eine schöne, trockene Kälte – nichts ist gesünder. Denn

was könnte es Besseres geben, sich die Hände zu reiben, wenn ein eisiger Nordost bläst.“Anders gesagt: Freuen wir uns nicht, wenn es warm

wird. Denn wirklich warm wird uns nur, wenn wir uns freuen.

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