Eine große Liebende erstickt an der Schuld
Das Ende der Sommerpause feiern die Theater mit Premieren. Als erstes eröffnet das Josefstädter Theater die Saison mit „Anna Karenina“.
WIEN. Was für eine großartig Liebende ist seit Donnerstagabend im Theater in der Josefstadt zu erleben! Sie ist elegante Ehefrau, verführerische Flirterin, hinreißende Seitenspringerin, treue Mutter – all das so
wahrhaftig, dass sie einen Mann, zu dem ihre Zuneigung verwelkt ist, schonungslos verlässt. Doch Anna Karenina, Titelheldin des dramatisierten Romans von Leo Tolstoi,
verstrickt sich in Schuld – weil sie sich am Beginn ihrer Liebe mit
Wronski plötzlich ihrem Ehemann Karenin nahe fühlt, weil sie für ihr zweites Liebesglück ihren Sohn vernachlässigt, weil Eifersucht und Selbstzweifel das Ende ihrer vermeintlich überirdisch ewigen Liebe zu Wronski besiegeln. Als sie sich in zurrenden Schuldgefühlen an ihre
Mädchenzeit erinnert, resümiert sie: „Wie vieles von dem, was ich damals wollte, habe ich bekommen,
und wie vieles, was ich damals besaß, habe ich für immer verloren.“
Wenn Schauspielerin Silvia Meisterle diese prächtige Frau facettenreich zum Leuchten bringt, ist dies doppelt erfreulich – zum einen als Kontinuum für das eigentlich
unvollführbare Vorhaben, Leo Tolstois Jahrhundertroman zu dramatisieren. Zum anderen statuiert Silvia Meisterle ein rar gewordenes Exempel für die Kostbarkeit von Ensembletheater, wie sie in dieser Konsequenz und auf hohem Niveau kaum
wo so gepflegt wird wie im Josefstädter Theater. Nachdem Silvia Meisterle sich im Theater der Jugend als Jungtalent entpuppt hatte und nach ersten Nebenrollen in der Josefstadt wurde sie hier 2010 ins Ensemble aufgenommen und
konnte so viel und so vieles spielen, dass aus einstigen Mädchenrollen eine Anna Karenina gereift ist.
Dass die Pandemie nicht nur Nachteile bedingt hat, zeigt diese
verschobene Premiere: Da wird nicht nur virtuos auf Eis getanzt, offensichtlich wurde so ausführlich und sehnsüchtig geprobt, dass die über dreistündige Aufführung mit Intensität und Details überrascht. Obgleich man nicht alles mögen muss: Niemals wird lau gespielt.
Amélie Niermeyer zieht vieles dezidiert ins Heute. Da wird Quadrille zu Synthesizer getanzt. Das
Video, das Wronski und Anna auf Italien-Reise zeigt, mutet wie ein
Verschnitt von Tourismus- und Autowerbung an. Alexander Absenger als Lewin hechtet wie ein Irrer über die Bühne, weil er sich als
hypernervöser Bräutigam nicht an den Traualtar wagt. Einiges wirkt da zu grell und zu aufgedreht.
Amélie Niermeyer hat die Theatertextversion von Armin Petras weiter bearbeitet und aus dem Roman – anhand der Übersetzung Rosemarie Tietzes –
konsequente Erzählstränge gezogen, die sie markant inszeniert. Für die vielen Szenen an
vielen Orten hat Bühnenbildnerin Stefanie Seitz einen neutralen Kubus gebaut, dessen rechteckig strukturierte Wände teils offen sind, teils mit Gardinen einen Innenraum erzeugen.
Exzellente Kostüme für jede Rolle, jede Situation und jeden Darsteller hat Christian Schmidt gestaltet. Warum verpasst er
Wronski einmal eine Jacke, die an einen Harlekin erinnert? Dies
ließe sich als Verweis auf die Commedia dell’Arte lesen: Auch in „Anna Karenina“sind Prototypen zu beobachten, diesfalls Typen der Liebe. Großartig sind
Annas Männer: Raphael von Bargen spielt den karrieregeilen, durch Eifersucht fahrig und eisig gewordenen Gemahl, der an gesellschaftlichen Ansprüchen zerschellt. Claudius von Stolzmann ist der unendlich zarte
und so draufgängerisch Liebende, dass er Beruf und Karriere
fahren lässt. Alma Hasun spielt eine jugendlich liebesgierige Kitty. Robert Joseph Bartl ist Annas tollpatschiger Bruder Stepan, der als Junger sympathisch-gemütlich ist und den im Alter die angestaute Inkonsequenz plagt.
Freilich sind acht Rollen arg karg für den famosen Roman mit fast 1200 Seiten. Aber der Clou einer Dramatisierung ist nicht eine perfekte Nacherzählung, sondern der Versuch des Umtopfens von Erzählung in Szene, von Roman- in Bühnenfigur, von Fantasie in Spiel. Amélie Niermeyer und diese Schauspieler
liefern da eine reiche Ausbeute.
Erzählung wird Szene, Fantasie wird Spiel
Theater: „Anna Karenina“, Theater in der Josefstadt, Wien.