Aufräumen in einem fremden Bett
Über die Ordnung der Stifte und die Verwüstung von Hotelzimmern.
Nachts habe ich neulich Bleistifte gespitzt. 73
habe ich dieses Mal gezählt. Danach habe ich die Bleistifte auf der einen Hälfte des Schreibtisches aufgelegt. Einen neben den anderen, manche quer, je nachdem, wohin sie von Länge oder Kürze gut passten. Ich habe ein Foto gemacht. Und ich habe das Bild einer Freundin geschickt. Dazu bestand kein anderer Anlass, außer es zu tun. Fein säuberlich war alles aufgelegt, wie das sonst nicht unbedingt meine
Art ist. Schreibutensilien genießen allerdings eine Ausnahmestellung. Bleistifte und Notizbücher sind meine beständigsten Begleiter. Ich würde eher das Handy liegen lassen als das kleine Etui mit den Stiften. In das Etui passen
vier Stifte. Manchmal ist das eine harte Wahl, weil sich über die Jahre so viele Stifte angesammelt haben, weil die Auswahl enorm ist und immer wieder welche dazukommen. Etui
habe ich seit Langem nur eines. Es ist kein besonderes Etui. Es ist schmal und schwarz mit
Reißverschluss. Es ist weder aus Leder noch aus einem anderen besonderen Stoff. Aus Plastik
ist es, das mit seiner aufgerauten Oberfläche aber so tut, als wäre es etwas Edleres. Ist es nicht. Es erfüllt seinen Zweck. Es beschützt seit vielen Jahren meine Stifte. Manche dieser
Stifte haben eine Geschichte, sind weit gereist, stammen aus Haifa oder Hittisau, aus Bamako oder Bezau. Manche sind ums Eck gekauft, oft nur schnell mitgenommen, wenn Lolinger irgendetwas aus einem Papierfachladen für die Schule brauchte. Manche dieser Stifte haben es noch nie ins Etui geschafft. Wenn ich zu Hause
bin, liegt das Etui in der gleichen Schublade wie der Reisepass und das Taschenmesser. Bevor ich mich auf einen Weg mache, wird es gleichzeitig mit dem Reisepass und dem Taschenmesser neben die Geldtasche gelegt. Die
Dinge halt, die immer mitmüssen. Dieser Tage sind das Etui und ich unterwegs. Wenn ich allein reise, wenn die zweite Hälfte des Bettes im Hotelzimmer nicht gebraucht wird, mache ich diese Betthälfte zum Schreibtischersatz. Und es liegen da dann mitgenommene und neu gekaufte Bücher, lose Zettel, aufgeschlagene No
tizhefte, Postkarten, die nie geschickt werden, Landkarten, Computerkabel, eine halb gegessene Semmel, irgendwo liegt auch die kleine Schokolade, die auf dem zweiten Kopfpolster
lag, den ich aber nicht brauche und auf das gegenüberliegende Sofa geworfen habe. Es beschleicht mich stets ein schlechtes Gewissen, dass ich damit die Arbeit des Zimmerservice erschwere. Um die romantisierende Angeberei des Schreibenden zu beweisen, fotografiere ich stets das Chaos. Ich schicke die Bilder nach Hause. Zu den Bildern schreibe ich – auch um mein schlechtes Gewissen beruhigen zu können – dann gern dazu: „Aktueller Arbeitsplatz“oder „Schreibplatz mit naher Minibar“. Wenn ich das Hotelzimmer verlasse, lasse ich wegen meines schlechten Gewissens an manchen Tagen den ganzen Tag das „Bitte nicht stören“Schild an der Tür hängen. Doch bevor ich gehen kann, muss ich Tag für Tag auf einem Hotelbett mein Etui suchen.